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Arnaldur Indridason

Nordermoor

(Bastei-Lübbe)

 
 

Ein einziger Sumpf

Wer Henning Mankell schätzt, wird von Arnaldur Indridason begeistert sein. Noch dunkler, verregneter sind die Schauplätze, noch bemitleidenswerter, einsamer wirkt sein Kommissar Erlendur Sveinsson. Auf Isländisch bedeutet Erlendur „Außenseiter“. Sein misantropischer Ermittler ist auf einer Farm aufgewachsen und lebt nach einer Scheidung allein in Reykjavik. Sein Sohn trinkt, seine Tochter ist drogenabhängig und schwanger, der Kontakt zu seinen Kindern abgerissen, nur als Geldgeber taugt er in ihren Augen noch.

„Mal ehrlich, hätte er eine Villa und ein harmonisches Zuhause, würde das doch keinen interessieren“, sagt Islands Bestsellerautor Arnaldur Indridason. Sein Kommissar ist altmodisch, kommt nicht zurecht mit Veränderungen, der Drogenszene von Reykjavik zum Beispiel oder der gespielten Coolness seiner Tochter Eva Lind, die sie vorbeikommt, um ihr Geld abzuholen: „Und, alles senkrecht, Alter?“ Erlendur leidet wie Mankells Kommissar Wallander an der Zeit. „Ich wollte ihn so isländisch wie möglich zeichnen, nationa-listisch, melancholisch, skeptisch“, erklärt Indridason. „Er liebt die Tradition, die Sagen, die Sprache, hat immer Angst um ihren Verfall, es sprechen sie so wenige.“ Sveinsson ist ein Einzelgänger, gesund-heitlich angeschlagen wie berühmte Vorgänger. Er haßt zuviel Helligkeit, die Mitternachtssonne zum Beispiel, raucht und grübelt zuviel - über seine Kinder und die Opfer seiner Fälle.

Schwerfällig und sensibel ist der Kommissar – ein wachsamer Mensch, der nichts vergißt. Am liebsten sieht er abends Doku-mentarfilme oder liest Geschichten über Menschen, die in Schnee-stürmen umkommen. Solche plötzlich Verschollenen interessieren ihn, aus kriminalistischer Sicht.“ In Island kann man sehr schnell verschwinden, sagt Indridason, auch ohne einen Mord.

Seltene, aber brutale Morde

Es kommt schon vor, dass jemand vor der Küste kentert, auf dem Gletscher erfriert oder in eine der vielen Lavaspalten fällt. Wenn jemand von den etwa 280 000 Isländern verschwindet, wird darüber geredet – genau wie über einen Mord. Denn Morde sind selten auf Island. „Das passiert nur alle paar Jahre, momentan haben wir vier Mörder in Haft, manchmal aber auch keinen.“ Deshalb hat vor dem 42-jährigen auch niemand auf der Insel Krimis geschrieben. „Wir sind eine sehr friedliche Nation“, sagt Indridason, „aber wenn ein Mord geschieht, ist er oft kaltblütig und sehr brutal.“

Dann ist die Tat schäbig, sinnlos und schlampig ausgeführt, schreibt er in „Nordermoor“, isländisch eben. Indridason erzählt gradlinig, nüchtern, fast lakonisch, der Plot ist fesselnd genug. Er beginnt mit einem Fund von Hardcore-Pornos auf dem Computer eines Toten in einer Souterrainwohnung. Kommissar Erlendur entwirrt allmählich ein kompliziertes Geflecht aus Verdrängung und Vertuschung von Schuld. Es ist Erlendurs vierter Fall, den ersten Krimi schrieb der Historiker, Journalist und Filmkritiker schon 1995. Doch erst jetzt wurde „Nordermoor“ mit dem „glasnyckel“, dem „Gläsernen Schlüssel“, ausgezeichnet, und zum besten Krimi Skandinaviens 2002 gewählt. Nordermoor ist übrigens ein Stadtteil von Reykjavik, ein trockengelegtes Moor – auch eine symbolische Anspielung, denn aus der Tiefe des Nordermoors kommen nicht nur Ratten und Ungeziefer ans Licht.

„Das Ganze ist ein einziger, verdammter Sumpf“, stöhnt sein Kommissar. Es geht um Genforschungs-Mißbrauch, um Gewalt gegen Frauen und seltene Erbkrankheiten – ein Thriller, der ein reales, politisch brisantes Thema aufgreift. Der Isländer Kári Stefánsson, ehemals Professor für Neurologie und Neuropathologie hat 1996 die Firma DeCode gegründet, die genetische Daten der Inselbewohner sammelt, Verwandtschaftsgrade und Erbkrankheiten erfaßt. Islands Bevölkerung gilt als klein und besonders homogen.

Verkaufte Gene

Sie war lange Zeit abgeschottet, außerdem sind Islands Bewohner sind mindestens im siebten Grad mit einander verwandt, ideal für die Forschung, die Jagd nach kranken Genen. Das überzeugte auch internationale Pharmafirmen, darunter den Schweizer Konzern Hoffmann-La Roche. Seit 1998 erlaubte das Parlament allein DeCode, diese hochsensiblen Daten, das „Buch der Isländer“, gewinnbringend zu nutzen. Manche Isländer fühlten sich benutzt, verkauft als gläserne Menschen. Indridason hat kein Buch gegen DeCode geschrieben, sondern eine denkbare Geschichte dazu erfunden. Verfilmt wird Nordermoor ürbigens von Baltasar Kormákur, der „101 Reykjavik“ gedreht hat.

Die Romanidee zu „Nordermoor“ entstand, als Indridason der Gedanke eines Mannes fesselte, der durch die Gen-Datenbank feststellt, dass er nicht der Sohn seines Vaters ist – ein realistischer Plot, ganz anders als sein erster Krimi. „Da ging es um Lebertran und Zuckerpillen, die es bei uns früher in der Schule gab. Lebertran schmeckte entsetzlich, aber jeder war scharf auf die Zuckerpille“, sagt er. „Ich dachte, wie es wohl wäre, wenn da etwas anderes verabreicht würde.“ Es wurde ein Roman übers Klonen, zu nebulös, zu unwahrscheinlich für die Isländer.

Hier rasen Ermittler auch nicht mit schnellen Autos, mit Blaulicht über die Insel, das sehe sehr schnell lächerlich aus. „Wir sind kein Land für einen James Bond, auch wenn er hier gedreht wurde“, sagt Indridason. Er hat dazugelernt: „Meinen nächsten Krimi habe ich über die Fischindustrie geschrieben“, sagt er und schmunzelt, „damit konnte jeder etwas anfangen.“

(Viola Keeve)

 


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