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Gangs Of New York

Das große Missverständnis um Martin Scorsese beginnt mit der Feststellung, dass er der größte lebende amerikanische Regisseur sei. Niemand weiß das besser als er selbst: Als er jüngst den Golden Globe für die "Beste Regie" in Empfang nahm, waren ihm die "standing ovations" seiner Kollegen schon fast peinlich. Gefragt nach seinen diesjährigen Oscar-Chancen, meinte er lapidar "Wenn ich je einen verdient haben sollte, dann wohl in den 70ern!" (da drehte er Filme wie "Taxi Driver" und "Wie ein wilder Stier"). Seit nunmehr fast zehn Jahren stellt Scorsese Film für Film eindrucksvoll unter Beweis, dass mit ihm nicht mehr zu rechnen ist: ob nun das siechende Kostümdrama "Zeit der Unschuld" (1993), die lieblos recherchierte Las-Vegas-Saga "Casino", das nie wirklich zur Kenntnis genommene Lama-Drama "Kundun", die ebenso kryptische wie belanglose Rettungssanitäter-Mär "Bringing Out The Dead", alle machen sie klar, dass Scorsese schon lange filmisch nichts mehr riskiert, keine Geschichten mehr zu erzählen hat, die wirklich berühren, der künstlerische Offenbarungseid kurz bevorsteht.

"Gangs Of New York" mit seinem reißerischen Werbeslogan "America was born in the streets" konnte in Amerika niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Obwohl mit einer Woche Vorsprung zu Spielbergs "Catch me if you can" - ebenfalls mit DiCaprio in der Hauptrolle - gestartet, lag er nach drei Wochen mit der Hälfte des Einspielergebnisses der später gestarteten Schwindler-Komödie hoffnungslos abgeschlagenen zurück. Nur 46 Millionen Dollar Einspielergebnis in den USA lassen Produzent Harvey Weinstein nun auf die Auslandsverwertung - insbesondere Europa - schielen, damit der mit über 100 Mio. Dollar teuerste Scorsese-Film aller Zeiten wenigstens seine Produktionskosten wieder reinholt. Ein bisschen Oscar-Segen könnte da auch nicht schaden, folglich wird Miramax nun seinen Golden-Globe-Abräumer "Chicago", als Selbstgänger etwas stiefmütterlicher behandeln und alle Oscar-Ad-Etats in das Sorgenkind buttern. Mit dieser Strategie konnte man immerhin auch dem lahmen "englischen Patienten" zu einiger Publicity vehelfen.

"Eine Herzensangelegenheit" sei es dem gebürtigen New Yorker Scorsese gewesen, die Geschichte seiner Stadt filmisch nachzuzeichnen, doch sein Schlachtengemälde hat Pathos für zehn weitere Filme, seine Handschrift ist nirgends zu erkennen (stünde auf dem Plakat nicht Scorsese, es hätte auch Wolfgang Petersen oder Ridley Scott verbrochen haben können), seine Darsteller (DeNiro sagte in weiser Voraussicht für den Butcher-Part ab, erst danach wurde Day-Lewis überredet, seine Schuster-Karriere zugunsten eines Leinwand-Comebacks an den Nagel zu hängen) stehen angesichts eines unausgegorenen, von gleich drei Schreibern zusammengedoktorten Drehbuches auf verlorenem Posten. Sämtliche inneren Beweggründe seiner Helden werden in inneren voice-over-Monologen offenbart, sowas hat ein guter Regisseur nicht nötig, der erledigt das mit kleinen Gesten und sublimer Bildsprache, doch die ist dem kleinen Mann mit den Schnellfeuergewehrsätzen gänzlich abhanden gekommen.

Zur Story: Zu Beginn treten sich zwei Gruppen auf schneeweißem Boden gegenüber: Die eine Gang - die sog. Natives" wird angeführt vom schnauzbärtigen Bill, the Butcher. Sie tragen Hüte, die am Himmel kratzen und haben eine Vorliebe für die Farbe blau. Auf der anderen Seite steht eine Meute wütender - weil unterdrückter - Iren, angeführt von einem Priester mit keltischem Kreuz in der einen und seinem kleinen Sohn an der anderen Hand. Sie nennen sich - prophetisch - "Dead Rabbits" und haben eine Vorliebe für die Farbe rot. Rot färbt sich dann auch bald der Schnee, denn der bis an die Zähne mit Messern und Beilen bewaffnete Bill, der Metzger (nomen est omen) bahnt sich erbarmungslos seinen Weg durch die Menge. Am Ende liegt der Priester tödlich verwundet am Boden und fordert statt Anerkennung und Bleiberecht den schnellen Tod. Sein kleiner Sohn muss das Schlachtfest mitansehen, ja wird von seinem Vater bereits vor dem Kampf martialisch mit den Worten "Das Blut bleibt an der Klinge" eingeschworen.

Kein Wunder also, dass dieser auch nach 16 Jahren Aufenthalt in einem Waisenhaus immer noch mit Rachegelüsten umher wandelt und schon bald die Bahnen des Vatermörders kreist. Dieser hat sein Gewaltmonopol in "Five Points" nicht nur behauptet, sondern auch ausgeweitet: Ein jeder, dem sein Leben lieb ist, muss an den Butcher Tribut zahlen, auch Politiker, die ihm klarzumachen versuchen, dass auch irische Einwanderer potentielle Wähler, und somit wertvolle Stimmen sein können, kommen kaum gegen den Fremdenhasser an. Daniel Day-Lewis legt seine Figur dermaßen charismatisch an, dass auch der junge Vallon nicht anders kann, als Rache erst mal Rache sein zu lassen und sich unter den "wärmenden Flügel des feuerspeienden Drachen" zu begeben. Bald schon findet Bill Gefallen an dem hellen Kerlchen, von dessen wahrer Identität er (noch) nichts ahnt und macht ihn zu dem Sohn, den er nie hatte. Als dann doch noch die wahre Intention des Racheengels ruchbar wird, überschlagen sich die Ereignisse. Ein Attentatsversuch schlägt fehl, eine neue irische Widerstandsgruppe wird ins Leben zurückgerufen und der Kampf gegen den Unterdrücker wieder aufgenommen.

Geschichtsunterricht mit Scorsese, der den jungen US-Teens klar machen wollte, dass New York nicht immer so groß und friedlich und mit Starbuck-Cafe um die Ecke ausgestattet war (wer hätte das gedacht). Dennoch gerät ihm der Unterricht mehr und mehr zur sinnentleerten, historisch mehr als ungenauen Materialschlacht. Lediglich einzelne fein herausgearbeitete Charaktere wie der mehr als pragmatisch denkende Tweed (der letztjährige Oscarpreisträger Jim Broadbent erneut in einer herausragenden Rolle), der bei Wahlen gerne mal das Motto "Nicht die Stimmen zählen, sondern die Auszähler" ausgibt und der undurchsichtige, aber herzensgute Monk McGinn, der sich pro Kopf, den er mit seinem Knüppel spaltet, bezahlen lässt und Sheriff für einen Tag sein darf, ragen aus dem Meer an Akteuren heraus. Die nachträglich als "love interest" für den Helden und die Zuschauer ins Script geschriebene Cameron Diaz bleibt als rotmähnige Trickdiebin eher blass und auch Leonardo DiCaprio scheint hier merkwürdig fehl am Platz.

Am Ende, als Vallon am Grab seines Vaters steht, blickt er über den Hudson, dahin wo irgendwann eine riesige Skyline entstehen wird, und zu den eher unpassenden Klängen von U2‘s "The hands that built America", lässt Scorsese dann im Zeitraffer sich nach und nach Wolkenkratzer für Wolkenkratzer erheben, bis hin zum World Trade Center, das in seiner Version auch stehen bleiben darf und nicht noch vor dem Fade Out wieder verblasst. Eine überaus müßige Diskussion brechen angesichts des doch eher enttäuschenden Epos einige Kritiker vom Zaun, die auf die Differenzen zwischen Regisseur und Produzent verweisen und leichtfertig den "Gottes Werk und Teufels Beitrag" - Mythos in die Welt setzen: Dass Scorsese ein Meisterwerk größer als "Heaven’s Gate hätte schaffen können, wenn der böse Weinstein, der ein zweites "Titanic" vor Augen hatte, ihn nur gelassen hätte. Als Rezipient muss man das beurteilen, was vorliegt, und dem alten Hasen Scorsese muss und darf man zutrauen, dass er auch an einem Produzenten vorbei, seine Vision durchsetzen kann, sofern er wirklich eine hat.

(Marisa Villareale)

 

Regie: Martin Scorsese
Drehbuch: Jay Cocks
Steven Zaillian
Kenneth Lonergan
Kamera: Michael Ballhaus
Schnitt: Thelma Shoonmaker
Musik: Howard Shore
Darsteller:

Daniel Day Lewis
Leonardo DiCaprio
Cameron Diaz
Liam Neeson
Henry Thomas
Brendan Gleeson
Jim Broadbent
John C. Reilly

Länge: 166 Minuten

 

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