Lektion 28: Die IT-Krise

Weihnachtszeit ist Fußgängerzonenzeit. Ach, wie glänzen die Glühweinbuden! Wie duften die heißen Maronen! Wie klimpert so schön Bob Dylan aus Niederauerbach sein „Blowing In The Wind“! Und da – sehen wir richtig? – ein schäbig gekleideter Mann, dessen Kleidung gleichwohl auf frühere bessere Zeiten schließen läßt, jongliert mit HTML-Seiten! Und – ja was ist denn das!? – eine junge, verhärmte Frau programmiert vor staunenden Frührentnern und Hausfrauen komplexe Datenbanken! Ui, da klatscht das fachkundige Publikum und wirft sein Scherflein in die ausgehöhlte Festplatte, die statt eines Hutes aufgestellt worden ist.

Kein Zweifel: Irgend etwas ist anders geworden in unseren Fußgängerzonen. Das gewöhnliche bunte Völkchen, das bettelnd und klimpernd uns erheiterte, ist um eine Gruppierung reicher geworden, um die Mensch gewordene Krise in der IT-Branche nämlich, all die Webprogrammierer, Designer und Contentmanager, welche ein hartes Schicksal aus den Reihen der guidowesterwellekompatiblen Besserverdienenden gerissen und ins Elend gestoßen hat.

Wie aber kam es nun zu dieser Krise? Einer Krise, vor der selbst Branchenriesen wie „Emils Einwegbrowser AG“ nicht verschont geblieben ist? Wir erinnern uns: Vor drei Jahren entwickelte Emil Ewaldson den Ex-und-Hopp-Browser „Bommelmann“. Ein 40 Megabyte kleines Programm, mit dem man genau eine Seite im World Wide Web aufrufen konnte. Danach war der Browser erschöpft, mußte deinstalliert und durch einen neuen „Bommelmann“ ersetzt werden. Schon in wenigen Wochern brachte es Ewaldson zum Wunderkind der Branche, zum Bill Gates der Browserwelt – und tatsächlich leuchtete den Leuten ein, daß 120 Mark für einen Einmalbrowser keine nennenswerte Summe war.

Doch mit einem Male war alles vorbei. Ewaldson blieb auf sein Browsern sitzen und mußte die Hälfte seiner 40000 Mitarbeiter entlassen, die andere Hälfte wurde gefeuert.

Ein zweiter Grund für die Krise ist diffiziler. Haben auch Sie sich schon einmal darüber gewundert, daß seit Jahren ein graviernder Mangel an Metzgereifachverkäuferinnen herrscht? Und haben Sie sich gleichermaßen darüber gewundert, wenn auf der Rechnung für Ihre Webseite folgendes stand: „1a gahrantirt BSE-fraie Weppseite, gutt abgehangn, ohne Gnochen, macht 30000 Mack“?

Nun, heute erkennen wir die Zusammenhänge. Wohlmeinende Arbeitsamtberater hatten durch diverse BSE-Krisen verunsicherten Metzgereifachverkäuferinnen geraten, doch „auf Computer umzuschulen“. Tatsächlich ist das Anfertigen einer Webseite nicht sehr viel schwieriger als das Einpacken und Eintüten von 100 Gramm warmem Fleischkäse – wird aber entschieden besser bezahlt und erhöht den sozialen Status um 30% vor Steuern.

So kam es also, daß Gerlinde Gröberle, Hanne Hunger oder Marietta Mager nicht mehr fragten „Darfs etwas mehr sein?“ und kräftig mit dem Messer durch die Jagdwurst schnitten, sondern plötzlich – nach einer intensiven Schulung von drei Tagen – mit Bildbearbeitungs- und Animationsprogrammen hantierten, JavaScript-Code in die Texteditoren kloppten und sich insgeheim freuten, daß sie jetzt nach Feierabend nicht mehr nach frischer Blutwurst rochen, dafür aber nach dem Odeur der Bewunderung ihrer selten dämlichen Kundschaft stanken.

Die Krise hat auch diese ehemaligen Metzgereifachverkäuferinnen wieder auf den Boden der Tatsachen zurück katapultiert. Heute stückeln sie sich wie eh und je durch ihr verseuchtes Rindfleisch, und nur ab und an erinnert eine kleine Bemerkung an die verflossenen guten Zeiten. „In welchem Dateiformat möchten Sie denn die Leberwurst?“ – „Meinen Sie, daß die Festplatte Ihres Kühlschranks noch 50 Gramm Gehacktes verträgt – oder möchten Sie auch gleich noch einen neuen Kühlschrank mitnehmen?“

Dabei haben es die Metzgereiverkäuferinnen noch gut. Sie wenigstens haben etwas Anständiges gelernt und ersparen sich das harte Schicksal der ebenso harten Verbundsteine in unseren vorweihnachtlichen Fußgängerzonen. Was aber soll mit all den armen Schweinen geschehen, die nicht mehr aus noch ein wissen? Was mit all den Programmierern, den Contentmanagern und Projektleitern, die sich mit der Pflege ebenso gigantischer wie unnützer privater Homepages über Wasser halten müssen? Gibt es Licht am Ende des Tunnels? Locken bald wieder Weib, Wein, Mammon und Koks? Und wer soll in Zukunft die FDP wählen? Vielleicht Jenny Elvers?

Das sind Fragen, die das Leben schrieb und gefälligst auch selber beantworten soll.

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