Cassius: 1999

Cassius, das sind Philippe Zdar – seines Zeichens ein Teil von Motorbass – und Hubert „Boombass“ Blanc Francard, Studioproduzent und Betreiber des Boombass-Studios. Zusammen haben sie seit 1991 alle Alben von MC Solar produziert. Im Frühjahr 1994 erschien auf MoWax eine äußerst housige Funkplatte mit allem, was die heutige House/Deep House Fraktion Frankreichs an Einflüssen zur Technokultur beigetragen hat. Nur wenig später kamen Remixe von solch illustren Epigonen der Detroiter Szene wie Carl Craig und dem aus dem angrenzenden kanadischen Windsor stammenden Ritchie Hawtin, im Jetzt bereits die Grand-Seigneurs ihrer Produzentengilde. 1996 folgte auf Zdars Seite die immer noch veritabelste und eigenständigste Houseplatte aller Zeiten: „Pansoul“ von Motorbass ist ein Meilenstein an Deepness. Die zarten und tiefen Fragmente dieser Musik sind stets mit einem funkigen aber unaufdringlichen Bass umsäumt. Aufgrund einer schlechten bis keiner Promotion ging dieses Meisterwerk unter.Genauso erging es der Single „Foxxy Lady“ von „L´homme qui valait trois milliards“ auf „Cassius“, dessen Inhaber Hubert Blanc Francard auch gleichzeitig Produzent war.

Heute heißt das Label, so wie das Projekt „Cassius“, die Platte „1999“ und gefeatured wird die gesamte Bandbreite der in der Vergangenheit gesammelten Erfahrungen. Mittlerweile besitzt die Pariser Housefraktion ein anderes, von Medien gehätscheltes Umfeld. Hier kann nichts mehr schief gehen: Daft Punk hatten 1997 einen weltweiten Erfolg mit dem Longplayer „Homework“ und den Single- und Videohits „Da Funk“, „Around The World“ und „Revolution 909“. Etienne DeCrecy besetzte mit dem Mix-Projekt „Superdiscount“ und dem Hit “ Prix Choc“ die obersten Chartpositionen, Air blubberten 1998 erfolgreich auf allen Videokanälen und hauchten mit ätherischer Moog-Nostalgia und bourgeoiser Gestik „Sexy Boy“. Vor nicht allzu langer Zeit konnte Thomas Bangalter von Daft Punk mit „Stardust“ und „Music Sounds Better With You“ Gold einheimsen. Die Pariser Club-Szene schwimmt oben auf der Erfolgswelle. Dann dieser kalkulierte Schachzug: „1999“ ist schon aufgrund des Namens eine der Gesprächsthemen in allen Musikgazetten. Nichtsdestotrotz war Prince seiner Zeit schon voraus, doch man kann zu dieser Promoaktion stehen wie man will: So simpel, daß das Naheliegende so weit entfernt liegt, daß sich keiner traut zuzufassen. „Der Zuschlag geht an die Herren Zdar und Blanc-Francard!“

Sämtliche Einflüsse oben beschriebener Stilistiken lassen sich hier finden: Funk, House, sogar Elektro-Beats. Doch vornehmlich wird das Black-Music-Revival der Motown-Ära aus den Siebziger Jahren gefeiert – man achte dabei auch auf die angegebenen Sample-Quellen. Das macht „1999“ höchst tanzbar. So feinsinnig, verspielt und mysteriös wie „Pansoul“ klingt das Cassius-Unterfangen allerdings nicht. Von der Grundstimmung Happiness getrieben, erfüllt die Musik eher den Anspruch von Clubtauglichkeit. Nicht mit der „Hau-drauf“-Attitüde wie Daft Punk, aber doch mit dem Bestreben zu kicken, regiert meist die offene Hi-Hat und die knackige 4/4-Bassdrum. Wah-Wah und Disco-Streicher machen diese Ansammlung von Spät-Siebziger-Pop Zitaten zu einer Aufforderung den Arsch in Bewegung zu setzen. (Zitatreise, keine Obszönität: Remember Funkadelic back in 1971?) Die G-Funk-Einflüsse sind stark vertreten und der Schweiß rinnt aus den Lautsprechern. Wer hat gesagt, die Franzosen verstünden nichts von Musik? Endlich eine Stilrichtung mit dessen Hype ich in Anbetracht eines auf großer Front auftauchenden Schwachmatiker-Pops gut leben kann.

Cassius: 1999
(Virgin)

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