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Sampler

Finnischer Tango. Tule Tanssimaan

(Trikont)

Finnland liegt irgenwo zwischen Skandinavien und Rußland, stellt den amtierenden Formel 1-Weltmeister, das exzellente Eistanz-Doppel Rakkamo/Petri (der Vater von ihr ist Bürgermeister von Helsinki), den verschrobenen Regisseur Ari Kaurismäkki und die trinkfesten Elvis-Wiedergänger "Leningrad Cowboys". Außerdem hat das Land, dessen Bewohner für ihre Wortkargheit berühmt sind, die höchste Handy-Dichte der Welt! So oder so ähnlich sieht das Bild aus, das sich der gemeine Nicht-Finne von Finnland macht.

Der gemeine Nicht-Finne lacht auch laut, wenn ihm eine Sammlung Finnischer Tangos auf CD in die Hände fällt - nicht ahnend, daß der Gesellschaftstanz argentinischen Ursprungs in Finnland längst eine zweite Heimat gefunden hat und dort ähnlich populäres Volksgut darstellt wie hierzulande Schlager oder Volksmusik. Die knisternde Erotik, die schwüle Ekstase und das feurige Flair gingen allerdings auf dem Weg in die arktischen Gefilde verloren, der skandinavische Ableger ist mehr eine heiß-kalte Spezialität mit unterkühltem Charme (Tango on the rocks?), das aggressive Bandoneon wurde durch das behäbige Tasten-Akkordeon ersetzt, die Syknopen gestrichen und die tonale Stimmung "Dur" gleich mit: finnischer Tango erklingt stets in Moll und frönt einer himmlisch schwelgerischen Melancholie. Denn: Der Tango ist der Blues der Finnen!

Anfang des Jahrhundert hielt der Tango auch in Europa Einzug, wo er zuerst Paris in Rage versetzte und sich nach und nach auch in den Tanzpalästen der Nachbarländer einnistete. Die Finnen adaptierten in den 30er Jahren erstmal deutsche "Konditoreitangos", mischten den weichen, europäischen Stil mit russischen Romanzen, unterlegten ihn mit dezenten Marsch-Rhythmen und versetzten ihn mit finnischen Texten über fallende Schneeflocken und aufopferungsvolle Krankenschwestern. Von 1939 bis 1944 befand sich Finnland im Kriegszustand und stand schließlich, wieder im Friedenszustand, vor einem wirtschaftlichen und sozialen Scherbenhaufen! Jetzt konnte der Tango beweisen, was er den Finnen wirklich bedeutete, denn er trotzte Rock´n´Roll- und Beat-Moden und wuchs über bloße sentimentale Exotik oder ein Dasein als Eskapismus-Vehikel hinaus. Der Tango hielt das finnische Volk zusammen, wirkte identitäts- und kulturstiftend und wurde zur Ersatzsprache für Unaussprechliches, von Liebesfragen bis hin zu Sorgen und Sehnsüchten. Zumindest bis in die 60er Jahre hinein, als das "vor-industrielle" Finnland ökonomisch umstrukturiert und modernisiert wurde. Die einsetzende Landflucht ließ Dörfer, Gemeinden und die provinziellen Tanzschuppen mit ihrem Kaffee-, Bier-, Schnittchen- und Würstchen-Angebot veröden. Für den Tango stand es schlecht, er gab bestenfalls noch die Folie für ironische Parodien ab. Doch der Tango-Bazillus hatte sich bereits so tief in der Volkseele festgenistet, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis die "junge" Pop-Generation sich seiner erinnerte und mit Verstärkern und E-Gitarren wiederbelebte. Seit Mitte der 80er erlebt der finnische Tango ein Revival, wenn auch vornehmlich in der Aufbrezelung alter Klassiker. Ein jährlich im Fernsehen übertragenes Tango-Festival tut ein Übriges dazu, den Boom am Leben zu erhalten, im Zuge dessen sich allerdings die Kluft zwischen wenigen erfolgreichen Profis und der Schar semi-professioneller Tanzorchester, die das Tempo eines jeden noch so flotten Tangos auf unnachahmliche Weise verschleppen, zunehmend vergrößert. Wie auch immer: der finnische Tango lebt und hat sich längst von seiner großen argentinischen Schwester emanzipiert. So what?!

Die finnische Tango-Sammlung ist beim Label Trikont erschienen, das sich offenbar zunehmend auf Doku-Compilations spezialisiert, meist mit ethnologisch-historischen Schwerpunkten, siehe auch die Präsentation vietnamesischer Schnulz-Straßenmusik oder die CD-Serie über amerikanische Jodel-Kunst. Das zieht zwei Dinge nach sich: zum einen umfangreiche, sorgsam erarbeitete Booklets mit nützlichen Begleit-Infos, die fast schon sekundärliterarisch den theoretischen Wissens-Background mitliefern, und zum anderen rund ein Drittel klangqualitativ minderwertiger Takes, die mehr der Vollständigkeit halber bzw. aus historischer Sicht interessant sind, sozusagen für den Hardcore-Fan, der seinen nostalgischen Spaß an verrauschten, dumpfen Anno-dazumal-Aufnahmen hat (bei 24 Takes bleibt aber immer noch genug stuff mit gewohnter Klang-Qualität). In diesem Fall stammt die betagteste Einspielung aus dem Jahr 1915, sozusagen aus der Kinderstube des finnischen Tango oder eher noch live aus dem Kreißsaal... Fast jedes Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist auf der CD vertreten, einzig die "Nuller" (übrigens ein neuerlich bevorstehendes Problem bzw. derzeit ein beliebter Programmfüller diverser Rundfunk-Anstalten: Hörer-Gewinnspiele mit der Aufgabenstellung, originelle Bezeichnungen oder besser gesagt überhaupt irgendwelche Bezeichnungen für das erste Jahrzehnt des bevorstehenden Jahrhunderts zu finden, das für sich nicht mit irgendwelchen knifflig-fieseligen Abzählspielchen oder peniblen Berechnungen abgebende Zeitgenossen - wie mich - zugleich auch das neue Jahrtausend sein wird) und die 20er Jahre waren in Finnland noch "tangofreie" Zeit.

Das Weh und Ach des finnischen Tango ist meist in schwelgerisch-verträumte Schmalz-Melodien gepackt und klagt ziemlich schwerfällig vor sich hin. Düster zwar, aber mit großer Geste, so daß man die Akteure im Frack und mittelscheitlig gegelten Haaren (ach nein, damals gab´s ja noch gar kein Gel, das hieß "Pomade" - oder auch: Butter, Talg, Griebenschmalz, Schmieröl (kaltgepreßt!), Essenreste, Einfachnichtmehrwaschen oder Washaltdawar...) unwillkürlich vor sich sieht. Mal mit, mal ohne großes Orchester.

Aber es gibt auch ein paar Ausderreihefaller, so wie Take 11 ("Itämaista rakkautta" von Topi Sorsakoski & Agents, 1984), ein zart-rocknrolliger Schwoofer mit viel Slide-Guitar und dezenten Hammond-Klängen. Das beste allerdings ist die sonore Stimme des noch halbwegs aussprechlichen Sängers, vom Sound her sicherlich der finnische Chris Isaak! Ähnlich Shadows-mäßig angehauchte Hall-Gitarren verwendet auch Kari Kuuva "Take 13: "Hyljätty tanssilava" von 1966).

Ein absolutes Kuriosum ist Take 15 ("Rautalankatango" von Brita Koivunen, 1964), ein Schmankerl aus der Beat-Zeit mit geschrammelten Gitarren und hypernervösem Refrain, der wie ein früher Rap anmutet und die verbalen Errungenschaften der 50er und frühen 60er auf den Punkt bringt: "... twist an shout, hippy hippy shake, hey bopalu..."!

Take 10 ("Syvä kuin meri" von Lasse Santakankaan Yhtye - Namen wie die Kinder aus Bullerbü..., 1998) versucht sich mit einem Hauch Pub-Atmosphäre und poltert musikalisch fast schon Tom-Waits-alike daher. Take 23 ("Kotkan ruusu" von Arja Saijonmaa, 1981) hat ausnahmsweise mal eine weibliche Stimme hinterm Mikro vorzuweisen - und was für eine! Ein weiblicher Bariton! Arja Saijonmaa liegt irgendwo zwischen Diva und Chansonette (Obacht! Trotz Cora Frost, Popette sowieso etcetera - in Deutschland handelt es sich bei solch überirdisch weiblichen Geschöpfen meist um "Engel mit großen Füßen" wie Georgette Dee und Konsorten, die nicht nur die schöneren Stimmen haben, sondern auch die schöneren Beine: Männer sind eben doch die besseren Frauen!) und intoniert ihren Song mit solch getragener Dramatik, daß einem schier das Herz aufgeht!

"Finnischer Tango - Tule Tanssimaan" ist alles in allem ein aparter Außenseiter im CD-Schrank: 72 Minuten Schmalz der edelsten Art! Ach ja, fast hätt ich es vergessen, so sehr hab ich mich schon dran gewöhnt: das Auffälligste am finnischen Tango sind natürlich die finnisch-sprachigen Texte (viele Umlaute, jede Menge Rachenlaute und gerollte Rrrrrrrr´s) - für deutsche Ohren erst etwas gewöhnungsbedürftig, aber dann nicht mehr wegzudenken!!!

(kp)


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