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Eine Zeitlang bin ich eingenickt und irrlichtere zwischen den Trümmern eines schlechten Traumes, wie sie flacher Schlaf bisweilen aus der Tiefe fischt. Am Fuß der Treppe stehend, sehe ich einen Menschen von oben auf mich zu stürzen. Es ist mein Ebenbild, und es stürzt in mich hinein. Ich taumele rückwärts, pralle gegen die Verbindungstür zu Wollheims Laden, stehe plötzlich als Beobachter vor Wollheims Ladentheke und entsetze mich aus der Perspektive eines Kindes, dessen Augen kaum über das Niveau der Thekenebene reichen, an diesem herantaumelnden Mann. Wir kollidieren, und das Kind, das ich jetzt bin, wird zurückgeschleudert, nachdem es den Mann verschluckt hat, es durchbricht die Fensterscheibe, überquert die Straße, den Schulhof des Gymnasiums (das in meinem Traum merkwürdigerweise direkt dem Laden gegenüber liegt), stolpert zur Freitreppe, die zum Eingang hoch führt, stolpert die Treppe hinauf, kommt auf deren oberster Stufe zum Stehen, wankt, dreht sich um, kann das Gleichgewicht nicht halten und stürzt kopfüber in die Tiefe. Oder es bleibt stehen, und die Tiefe kommt näher. Nicht genau zu ermitteln. Ich schrecke auf.

"Na?"

Meinsell, für meine Ohren zwei Buchstaben und ein Fragezeichen, hockt auf seinen Vieren an meinem Bett, schwer schnaufend, das korrekte zweireihige Tuch durchgeschwitzt. Er dürfte noch nicht lange hier sitzen, lange genug aber, um sich an meinen beschädigten Anblick gewöhnt zu haben.

"Auch schon da?"

Ich sollte einfach freundlicher zu ihm sein. Er schaut denn auch empört, hebt resigniert die Schultern und vergißt sie zu senken.

"Drei Gründe." beginnt er zu dozieren. "Erstens: Ich bin also vor deiner Wohnungstür und stelle fest, daß ich ja überhaupt keinen Schlüssel besitze. Anruf beim Chef. Die Nachbarin habe einen. Ist nicht da. Also zurück, wo Grund zwei sich in sein Recht setzt: Irgendso ein Dilettant von freiem Mitarbeiter kann den versprochenen Artikel über 200 Jahre Freiwillige Feuerwehr 'wegen mangelnder Aktenlage' nicht liefern. Rumtelefonierei, Ersatzartikel betreffend. Bitten, betteln, locken, drohen. Um drei stehe ich endlich wieder vor deiner Wohnung. Die Nachbarin hat inzwischen ihre Einkäufe erledigt, will mir aber den Schlüssel partout nicht aushändigen. Ich zeige meinen Presseausweis, sie zeigt ihn ihrem Enkel im Nebenhaus, das hilft. Ich komme in die Wohnung, nachdem ich deine Nachbarin habe zurückhalten können, es mir gleich zu tun. Dort erwartet mich der entsetzliche Grund Nummer drei: ein unglaubliches, schier übermenschliches Chaos. Aufkommen der Frage: Warum besitzt K.O. Horst Schränke und Regale, wenn er doch alle Objekte seines Hausstands außerhalb der selben deponiert, vorzugsweise auf dem Teppichboden? Weitergehende Fragestellung: Wenn es schon SO in K.O. Horsts Wohnung aussieht, wie dann erst in seinem Kopf, woher die Artikel kommen, für die ich den meinen hinhalten muß?"

So redet er. Ich zöge die innere der äußeren Ordnung vor, verteidige ich mich schwach, und so krass gelogen ist das noch nicht einmal. Meinsell jedenfalls, der während seiner Rede das Jackett wenigstens aufgeknöpft hat, kommentiert es, indem er die hochgezogenen Schultern endlich fallen läßt und kräftig durchatmet. Wir schweigen eine Weile, und Meinsell nutzt die Gelegenheit, mir mitleidige Blicke zu senden.

Er war eine der ersten Erwerbungen Schievers auf dem Weg zum Wohlstand gewesen, dieser "ausgebildete Journalist", den der Herausgeber eines hochprofitablen Blättchens für den Aufbau eines gewissen Renommees nötig zu haben glaubte. Nicht billig, der Bursche.

Klein, ja, zierlich, schon im Geschäftsanzug zur Welt gekommen, hält Meinsell seitdem die Schnüre in der Hand. Kein Marionettenspieler, vielmehr das rare Beispiel für die noch rarere Verbindung von Buchhalter und Anarchist. In diesem vierzigjährigen, zarten Körper, der sämtliche Rechnungen des Älterwerdens einfach offenläßt - kein Haarausfall, keine dritten Zähne, weder Falten im Gesicht noch Ringe um die Augen - haben sich das Pedantische und das Chaotische auf zwei strikt voneinander getrennte Territorien zurückgezogen. Wo Meinsell reagieren muß, ist er Freund des Unkonventionellen, der Abweichungen von der Regel begrüßt und fördert. Das macht die Arbeit mit ihm so angenehm.

Wo Meinsell hingegen agiert, herrscht Ordnung, fügt sich alles in ein System. Nennen wir ihn folglich den Bändiger des Chaos, ohne das Chaos zu zerstören. Er domestiziert es vielleicht, aber wenn es dann die Zähne fletscht, merkt man, daß es seine Ungezügeltheit noch nicht ganz verloren hat.

"Du bist also ein Chaot-" nimmt Meinsell den Faden wieder auf, von dem ich hoffte, er habe ihn verloren.

"Keine Überraschung. Wiewohl es mir so vorkam, in einen dieser berühmten Fernsehkrimis geraten zu sein - du erinnerst dich: Detektiv betritt Wohnung und stellt fest, daß sie durchsucht worden ist. Ein Glück nur, daß kein überraschter Einbrecher aus dem Hinterhalt auftauchte und mir einen Scheitel mit der Blumenvase zog."

"Du redest wie ein ausgebildeter Journalist." reize ich ihn. "Und übrigens gibt es in meiner Wohnung keine Blumenvasen."

"Weil dir ausgefeilte Kultur fehlt."

"Das ist zweifellos richtig."

"Du weisst, ich mag dich."

Völlig unlogischer Gedankensprung. Ich verziehe das Gesicht, mit ihm sämtliche darauf klebenden Pflaster und leider, leider auch die darunter schwelenden Wundzustände. Aua.

"Bist ein armes Schwein, ja. Was sagen die Ärzte?"

"Alles Routine, alles Standard, komplikationslos, planmäßig. Was Ärzte einem eben so sagen, bevor man stirbt.

"Planmäßig." wiederholt Meinsell und richtet sich auf. "Planmäßig?"

"Mein lieber Freund" - ganz langsam sprechen und ihm in die Augen sehen - "Ich bin eine Treppe runtergefallen. Punkt. Ich war ungeschickt. Ich leide an einer Teilamnesie, falls man das so nennen kann. Das heißt: Die letzte Stunde vor dem Unfall ist aus meinem Gedächtnis getilgt oder liegt dort außerhalb des Zugriffs. Punkt, Punkt, Punkt. Kein Komplott, kein finsteres Verbrechen. Dummheit. Ich wiederhole: Dumm. Heit." Wieder normales Sprechtempo und einen kurzen Blick zur Schrankwand: "Und jetzt wüßte ich schon gerne, was du mir mitgebracht hast. Mein Schrank ist der links."

Zehn Minuten später stapelt sich auch in meinem Spind die Ausrüstung bettlägriger Normalmenschen. Wenn sich Unterhosen, Socken und Schlafanzüge türmen, löst sich damit noch nicht das Problem, wie man sie anziehen soll. Aber es dämpft ein wenig die Isolationsängste. Ich Robinson habe mich eingerichtet. Hoffentlich läuft mir kein Freitag über den Weg.

Laptop und Faxgerät. Letzteres stammt aus den Magazinen des Maxmarktes und soll, belehrt Meinsell, zur eiligen Übermittlung schwarzaufweißer Dokumente dienen, Manuskripte vorzugsweise, welche in großer Zahl zu verfassen mir ja nun Muße genug gegeben sei.

"Lohnfortzahlung fällt bei dir, von deinem Fixum abgesehen, bekanntlich aus. Es ist hart: Aber du musst arbeiten."

Leider paßt das Fax nicht auf das Nachtschränkchen und muß neben dem Bett auf den Boden gestellt werden, was mir die Bedienung unmöglich macht.

"Da findet sich was." beruhigt der Redakteur, und ich nicke den Satz mechanisch und ungläubig ab. Meinsell installiert das elektronische Ensemble, ein Akt, der ihn dazu zwingt, sein Jackett abzulegen, und ich überlege mir, ob ich ihn jemals ohne dieses Jackett gesehen habe.

Alsdann folgt der unterhaltsame Teil der Bescherung, werden Bücher und CDs ausgepackt, auch ein Abspielgerät samt Kopfhörer kommt ans diffuse Birnenlicht der Stube.

Reden wir nicht davon, welch unerquickliche Auswahl Meinsell aus meinem Fundus zusammengestellt hat. Er behauptet zu seiner Verteidigung, die Inhalte meiner Bücherregale hätten sich als ein schauriger Mount Neverread aus dem Geröllfeld des Teppichbodens erhoben und Auswahl sei einzig nach dem Willkürprinzip sowie unter Berücksichtigung der heiklen statischen Verhältnisse des Lektüreberges möglich gewesen. Gleiches habe ihn bei den Musikscheiben erwartet, einem über die gesamte Wohnfläche ausgebreiteten Labyrinth.

Mag so sein. Jedenfalls bedeute ich ihm, er möge den ganzen Schrott gleich wieder mitnehmen: die gratis abgestaubten Promo-CDs, angelesene Rezensionsexemplare und lediglich aus pseudoromantischen Gründen angeschaffte Stimmungsmusik ("Kuschelrock").

Meinsell, resigniert: "Dann schreib mir eine Liste, bitte. Ich werde eine Praktikantin in deine Wohnung schicken, damit sie dort ein, zwei schöne Tage beim Stöbern verbringen kann. Wenn es dir recht ist."

"Ist mir recht. Also Papier und Bleistift."

Ich beschränke mich auf jeweils fünf Bücher und CDs: Nabokovs "Gabe", ein Lexikon zur Rockmusik der Sechziger Jahre, einen Malet-Krimi, Schmidts "Steinernes Herz" und die Joni Mitchell-Bio von .... hab den Namen vergessen. Die CDs: Turtles die Erste, Rising Sons (gibts nur eine), H.P. Lovecraft (die beiden ersten auf einer CD), The Paupers (dito), sowie Farpardokly, die einzige.

"Krude Mischung" murmelt Meinsell und: "Brauchst Du Geld?"

Ein Hundertmarkschein wechselt den Besitzer, ich gestatte dem Redakteur, den Betrag meiner Brieftasche zu entnehmen, die auf dem Küchentisch in meiner Wohnung liegen müßte.

"Ich muß jetzt. Wir telefonieren. Hast du noch Wünsche?"

Keine Wünsche. Da kommt Meinsell dicht an mein Bett, senkt seinen Kopf dem meinen konspirativ zu, holt Luft, hält sie an, läßt sie heraus. Und richtet sich auf.

"Ist ja zwecklos. Du bleibst dabei? Unfall? Ich glaube dir kein Wort."

Ich mir auch nicht. Wenigstens darin sind wir uns einig. Kann ich ihn damit beruhigen, dem Bullen heute morgen erzählt zu haben, es hätte mich pure Unachtsamkeit von der Treppe gefegt? Wollte nur mal kurz reinschauen, der schlechtrasierte Herr, und nahm meine Erklärung erleichtert zur Kenntnis: wieder ne Arbeit weniger. Fragte noch nicht einmal, warum ich im Haus war. Wollheim besuchen? Zur Not eine Antwort, die der Alte hoffentlich bestätigen würde. Das heisst: Er brauchts ja gar nicht zu bestätigen. Wenn ich ihn besuchen WOLLTE, unangemeldet, kann ers nicht wissen. Also abgesicherte Version des Tathergangs. Kann sein, daß mans noch braucht.

"Die Polizei ist auch überzeugt, daß es ein Unfall war." sage ich scheinheilig, und Meinsell, schon im Gehen, dreht sich um.

"Dann ist ja gut." steuert er bei. "Ich werde die untalentierteste Praktikantin damit beauftragen, deine Schussligkeit in dreissig grammatisch hochpeinlichen Zeilen abzuhandeln. Ciao."

 

Fortsetzung folgt

Der große Unbekannte Karl-Olaf Horst Meinsell Wilfried Schiever
Der große Unbekannte
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