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Hielte sich mein sonderbarer Dialog mit der unbekannten Person an die Gesetze der Serie, müsste ein drittes Foto den Teddybärartikel beantworten. Ein Foto, welches - auch hier den genannten Gesetzen verpflichtet - eine weitere Verkleinerung des Szenarios abbilden würde, wohl gar mit dem Original identisch wäre, von dem man mir bereits zwei Vergrößerungen hatte zukommen lassen.

Was mir bislang vorlag, erlaubte nicht mehr als eine allgemeine Beschreibung des Mannes mit der Pfauenfeder. Er befand sich im Niemandsland zwischen Jugend und Alter, ein vielleicht am Ende seiner Vierziger schaudernd dem Beginn seiner Fünfziger entgegensehender, unleugbar übergewichtiger, mäßig behaarter und alles andere als sportgestählter Mann. Die durchgehende Blässe seiner Haut legte nahe, man habe ihn gewiß nicht im Sommer abgelichtet. Und zwar aus einem Winkel, der auf eine fotografierende Person schließen ließ, deren Körpergröße die Einssechzig kaum übersteigen dürfte oder durch gebeugte Knie auf dieses Maß reduziert worden war.

Ich hatte dies dank eines Experiments herausgefunden, bei dem ich den Stofflöwen von Schievers kleiner Tochter mit einer Sofortbildkamera aufnahm. Ein mannsgroßes Tier - wenn man nicht gerade zwei Meter maß wie der Vater des Mädchens, sondern gerade einmal jene Einsachtzig erreichte, die ich und der Nackte gemein haben. Ich fotografierte aufrechtstehend. Ich fotografierte, die Knie leicht gebeugt. Ich fotografierte schließlich mit stark gebeugten Knien und gesenktem Kopf, was mir gute zwanzig Zentimeter in der Senkrechten nahm. Und dieses Foto passte.

Ich erinnere mich genau an den Tag der Aufnahmen. Trister Mittoktober, Herbstferien, das großräumige Büro des Maxmarktes unter deprimierendem Neon, die hallenden Stimmen der Frauen, die telefonisch Anzeigen entgegennahmen, Auskünfte erteilten, bei Beschwerden die Stärken diplomierter Stoiker anwandten. Das Klickklickklick der Tastaturen, knirschendes Gestühl, wenn sich eine der Frauen aufrichtete, beide Hände in die Hüften grub und sich den Schmerz aus dem Rücken reckte. Im Hintergrund die allzeit sprotzende Kaffeemaschine, Symbol für die reizstoffreiche, energisch nach vorne wuchtende Atmosphäre eines propperen und aufstrebenden Unternehmens.

Schievers Frau, die zierliche Patricia, war mit dem Kind für einige Tage verreist - "Schwiegermutter macht gesundheitliche Zicken. Irgendwann mußte das ja losgehen!" -, und ich wußte es. Nein, bestätigte Schiever, Jenny, sein süßes Blondchen, habe ihren Löwen nicht mitgenommen. Sie komme langsam in eine Lebensphase, die nicht mehr auf läppische Kuschelsurrogate und Schmusestellvertreter stehe, Pubertät heiße das, und er, eifersüchtiger Vater, habe auch schon die obligatorische Schrotflinte zum Vertreiben des läufigen Jungmannenvolkes bereitliegen, das über kurz oder lang sein Domizil umschleichen werde.

Schiever ist stolz auf die Tochter, das Abbild seiner Frau bis auf die Körpergröße, bei der das Kind seinem Vater nachzueifern scheint. Meinen Wunsch hielt er für verschroben: "Du bist ja pervers!", sah sich jedoch nicht veranlaßt, ihn mir abzuschlagen. Künstler, so sein Credo, seien astreine Psychoten, deren Krankheit sich im Gegensatz zu der ihrer ärmeren Leidensgenossen, vermarkten lasse. Er gab mir den Schlüssel zu seiner Wohnung und trug mir auf, die Blumen zu gießen, wenn ich schon seine heiligen Hallen bezwecks verrückter Tätigkeiten betreten müsse. Ich lieh mir eine Polaroid und machte mich auf den Weg.

Schiever wohnt ausserhalb: auf grünem Rücken, eine Serpentine hoch. Mischwaldumzingelt. Das Auto, das ich damals fuhr, verkörperte die technische Steinzeit und schaffte den Buckel der Schlange mit dem Keuchen eines greisen Tieres. Die Verlegerfamilie hat die obere Etage einer Villa angemietet, in der früher Direktoren der hiesigen Konservenfabrik, umschwärmt von Kinderschar und sonstigen Dienstboten, residierten, lang ists her. Ich parkte vor der Einfahrt zum geräumigen, auf Englisch getrimmten Garten, ging ins Haus, goss die Blumen und machte meine merkwürdige Arbeit.

Als ich an die Straße zurückkam, war mein Wagen verschwunden. Bitteschön; ich pflegte die Kiste niemals abzuschließen. Selbst unser phantasiereiches Jahrhundert hat den Autodieb noch nicht erfunden, der sich an meinem fünfzehnjährigen Golf vergreifen würde. Dachte ich. Wurde ich eines Besseren belehrt. Zu Fuß machte ich mich auf den Rückweg, überlegend, ob der Diebstahl anzuzeigen oder als eine besonders günstige Art der Verschrottung zu begrüßen wäre.

Ich brauchte nicht weit zu gehen. In der ersten Kurve wollte mir das Gebüsch, welches anstelle einer künstlichen Begrenzung die Straße vom Abhang und seiner Bewaldung trennt, etwas derangiert vorkommen. Ich ging zur ominösen Stelle, wo sich eine Schneise im Grün aufgetan hatte, lukte in die Tiefe und erblickte mein Auto schwer lädiert in den Fängen einer nur oberflächlich blessierten Eiche.

Es wurde eine ärgerliche und teure Angelegenheit. Ein Herr von der Polizei warf mir vor, die Handbremse nicht angezogen zu haben und nannte solche Unterlassung angesichts der Steigung des Berges und des zwar spärlichen, doch durchaus vorhandenen Verkehrs "schwer fahrlässig". Wirklich: Die Handbremse war nicht angezogen worden. Eine genaue Untersuchung in der Werkstatt relativierte mein Pech insofern, als sie zu dem Ergebnis kam, der unangenehme Zwischenfall habe mich vor etwas weitaus Unangenehmerem bewahrt.

"Die Bremsschläuche, mein Lieber, hingen quasi nur noch an den berühmten seidenen Fäden. Möglich, daß es Sie in voller Fahrt abwärts erwischt hätte, und dann gute Nacht, Marie."

Nein, nein, sie waren nicht etwa in böser Absicht durchtrennt worden! Jedenfalls nicht auf die herkömmliche Weise.

"Es gibt Leute, die machen sich so an Bremsschläuchen zu schaffen, daß man automatisch auf natürlichen Verschleiß tippt. Is wahrscheinlich eine Methode, die bei der Mafia auf dem Ausbildungsplan steht."

Ich lachte lauthals. Waren wir etwa in Palermo? Nein, wurde mir versichert, in einem Rechtsstaat. Und der wird prüfen, wie er dich zur Kasse bitten kann. Teuer, wie gesagt.

Der dritte Brief mit dem dritten Foto traf nicht ein. Dafür ein diskretes, neutral weißes Kuvert, ohne Beschriftung, das man in meinen Postkasten geworfen hatte. Er enthielt eine beachtliche Summe Geldes. Ungefähr so viel, wie mich der Spaß mit der ignorierten Handbremse gekostet hatte.

 

Was bisher geschah

Der große Unbekannte Karl-Olaf Horst Wilfried Schiever
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Karl-Olaf Horst
Wilfried Schiever

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