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5 Transzendenz

Die erste vernünftige Nacht seit meiner Einlieferung. Geschlafen, tief und traumlos, mit einem schwarzen Streifen Bewußtlosigkeit zwischen Anfang und Ende. Ich habe nie gern geträumt. Man wird zum Gefangenen der Willkür einiger durchgeknallter Nervenenden, die partout Geschichten zimmern wollen. Kein Mensch geht gern ins Kino, ohne zu wissen, welcher Film gespielt wird. Überraschungen sind nicht mein Ding, ich sagte es schon.

Überhaupt gewöhne ich mich langsam an ein Leben jenseits der Ereignisse. Kein Fernsehen, keine Zeitungen. Kein Fußball. Nach dem Frühstück werde ich Joes WM-Kommentare abrufen, wenn mir Schwester Benedikta nicht schon vorher verraten wird, in welcher Weise sich das Christentum gegen den Islam aus der Affaire gezogen hat.

Oh je! Kurz angebunden, grummelnd. Deute ich Benediktas Mienenspiel richtig, haben wir uns blamiert, zum Schluss dank des typisch deutschen Fußballglücks das Schlimmste aber vermieden. Unentschieden? Ich frage lieber nicht. Tröste sie auch nicht damit, daß wir, ein immerhin fast zur Hälfte katholisches Volk, nächste Woche gegen die Holländer das Banner Roms über erzevangelischer Abtrünnigkeit wehen lassen können. Unangenehmer Gegner. Spucker und Treter, die von der Klasse ihrer Surinamesen zehren. Holländern musst du den Schneid abkaufen, und früher konnten unsere Jungs das prächtig. Heute fliegen sie sofort vom Platz.

Nee, nicht sagen. Schlagen wir nämlich die Holländer, geht es im Viertelfinale vielleicht gegen Italien. Italien! Und dann sitzt Schwester Benedikta schön zwischen den Stühlen.

Immerhin kontrolliert sie die Absaugvorrichtung an meinem Bett und den Schlauch in meinem Knie. Läuft tadellos. Habe ich Langeweile - kommt selten vor - beobachte ich, wie von Zeit zu Zeit ein wenig Blut mit kleinen schwarzen Klümpchen drin in den Behälter gepumpt wird.

3:3, mein lieber Mann! Joe hat es sich gerade vor dem Fernseher gemütlich gemacht, den Laptop auf den Knien, als "die Trantüte Möller einen Ball im Mittelfeld vertändelt, den die Iraner mit zwei schnellen Spielzügen auf ihre rechte Angriffsseite bringen. Wer deckt Ali Daei? Oh Gott: Reuter! Der kriegt den Arsch nicht hoch! Die Flanke kommt, Ali Daei steigt, Reuter guckt, Köpke ist chancenlos. 0:1."

Fünf Minuten später, "die Deutschen sind konfus, Möller der erwartete Totalausfall. Versuchen, auf die Flügel auszuweichen, Klinsmann und Bierhoff mit Flanken zu füttern, scheitert aber grandios. Was ist das? Ich glaubs nicht! Matthäus mit Querschläger im eigenen Strafraum, der Ball trifft Reuter prächtig am Hinterkopf und zischt Richtung Köpke. Der faustet, Reuter vor die Füße. Reflexbewegung des ob dieses überraschenden Kontakts verdutzten Unterschenkels, leider in die falsche Richtung. 0:2."

Joes Bierkonsum steigt. Er betont, linksliberal zu sein und sowohl den germanischen Fußballchauvinismus abzulehnen als auch das natürliche Recht sogenannter Fußballentwicklungsländer auf sportliche Anerkennung gutzuheissen. Ermuntert, positive Aspekte des Staates Iran zu erarbeiten, um ihn für die Restlaufzeit der Partie ohne schlechtes Gewissen anfeuern zu können. Tippt Reminiszenzen an seine Studienzeit, als iranische Studenten regelmäßig vor der Mensa gegen das Schahregime demonstrierten. War das nicht aller Ehren wert? Und fungiert der Iran mit seiner Amerikafeindlichkeit nicht als Speerspitze des Antiimperialismus? Der Islam, gut. Nich so doll. Aber jetzt bitte keine hochnäsige Religions- und Kulturkritik! In diesem Augenblick fällt das 1:2.

"Klinsmann, endlich! Hat die Schnauze voll! Nimmt Heinrich, dem Totalversager, den Ball fluchend vom Fuß. Bricht durch in die Mitte, überspielt zwei Abwehrrecken, zieht mit links ab, Flachschuss. Tangiert den rechten Pfosten - Tor! Erfrischungspause."

Joe spekuliert im folgenden über Berti Vogts' Kabinengebaren. Wird er die Jungs zusammenstauchen? Wahrscheinlich. Auswechslungen? Möller, Reuter, Heinrich auf jeden Fall erste Kandidaten.

Zweite Halbzeit. Aufstellung unverändert. Möller rochiert, Thon ackert im Mittelfeld, Wörns übernimmt Daei. Dann die 60. Minute. Eckball Möller - Kopfball Bierhoff - Pfosten. Klinsi bekommt den Ball, zögert, umspielt einen Iraner, zieht ab, der Torwart faustet den Ball aus dem Strafraum, wo ihn Thon volley aus der Luft nimmt und ins rechte obere Eck nagelt. 2:2.

"Hurra! Chomeni betätigt zähneknirschend einen Schalter und beginnt, noch ganz gemächlich, im Grab zu rotieren."

Bis zur 79. Minute. Deutschland versucht es weiter über die Flügel, Heinrich hat Ziege Platz gemacht, der aber die Leistung seines Vorgängers noch unterbietet. Optische Feldüberlegenheit. "Daei mutterseelenallein im Mittelkreis. Abpraller, Verwirrung. Pass aus dem Pulk Richtung deutsche Hälfte, Wörns und Daei bemühen sich um den Ball, Daei bekommt ihn, rennt, Wörns ihm nach. Setzt zur Grätsche an, doch bevor es dazu kommt, hebt Daei den Ball über den herausstürzenden Köpke hinweg ins Tor. 2:3, der Jubel ebenso unvorstellbar wie der Schock."

Letzte Minute. Wilden Ochsen gleich stürmen zehn deutsche Spieler gegen das iranische Verteidigungsbollwerk. Bierhoff einmal, Klinsmann zweimal: todsichere Chancen, ungenutzt. "Drei Minuten Nachspielzeit. Möller steht am Rande des iranischen Strafraums und weiss nicht, wohin er den Ball spielen soll. Dringt in den Strafraum ein, zwei Abwehrspieler vor sich. Bevor ihn diese überhaupt berühren können, fällt Andy. Pfiff. - Andy, du süßes Schlitzohr! Alles verziehen, Andy. Klinsmann nimmt den Ball und legt ihn auf den Elfmeterpunkt. Daei versucht ihn zu irritieren, erhält die gelbe Karte. Richtig so! Klinsi läuft an, läuft aus dem Strafraum, bleibt stehen. Und kommt. Und kommt. Und schießt. --- Und trifft! Ausgleich! Weiter! Holland! Schluss!"

 

 

Karl-Olaf Horst Andy Möller
Karl-Olaf Horst
Andy Möller

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