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Das neue Jahr begrüßt, die Schwarzpulverschwaden verweht. Ich nahm Abschied von der köstlichen Trunkenheit der vergangenen Tage und stieg hinab in den Alltag. Vereinsjubiläen drängten in die relative Ewigkeit des gedruckten Wortes, Geschäfte wurden eröffnet, es roch nach Leim, nach frischer Farbe, nach Hoffnung. Ein getigerter Kater turnte auf vereister Tannenspitze, dem lockenden "Muschmuschmusch" seines Frauchens einen aufgepumpten, schwankenden Schwanz entgegen streckend, und der zur Rettung aufgestiegene Feuerwehrmann brauchte am Ende nötiger Hilfe als das hinterlistige Tier.

Ich sah und notierte, trank Glühwein und Sektorange, pflegte meinen Kopfschmerz im parfümierten Dunstkreis von Boutiquenbesitzerinnen, genoss den Nervenkitzel beim Verlesen von Rechenschaftsberichten der Kassenwarte des Schäferhunde- und Billardklubs. Petra kam von ihren Eltern, eine Dose Plätzchen im Gepäck zur postweihnachtlichen Feier. Wir erforschten unsere Körper und entdeckten mancherlei idyllischen Fleck. Wie hat sie es doch so treffend ausgedrückt? Es kommt der Januar, es geht der Januar.

"Herr Horst? Sind Sies?"

Nichtsnutziger Februartag, Eisregen im Anzug. Ich hätte den Hörer nicht abnehmen sollen.

"Bürgell ist mein Name. Sie kennen mich nicht. Ich vertrete Frau Fänz-Ullert, die im Winterurlaub weilt. Es handelt sich um folgendes."

Eine Pressekonferenz. Das engagierte Eintreten des Vereins für den Schutz der Jugend vor menschenverachtenden und gewaltverherrlichenden Rockmusiktexten habe "bei den Medien, auch den überregionalen!" starke Resonanz gefunden, die Vorsitzende sei gar in die Talkshow "Morgen schlitz ich Mama auf - Problemkinder sprechen über ihre Zukunft" eingeladen worden ("Sie war pri-ma!").

"Steter Tropfen höhlt den Stein, Herr Horst. Wir wollen also noch einmal rekapitulieren, nachhaken, vorausblicken, summieren und gemeinsam überlegen, welches unsere nächsten Ziele sein müssen, damit dem Missbrauch eines Unterhaltungsmediums Einhalt geboten werden kann. IHR Artikel, lieber Herr Horst, war übrigens gaaanz besonders sensibel!"

Jawoll, meine Damen und Herren, das war er wirklich!

Den Litaneien einer Frau Bürgell ausgesetzt zu sein, lohnte dennoch als Aussicht wenig. In unserem Duodezländchen geraten Pressekonferenzen überdies zu Treffen des überschaubaren und bekannten Personals: eine Vertreterin von Funk und Fernsehen (wahrscheinlich Petra), der ständig pfeiferauchende und in den Sphären des Großen-Ganzen patrouillierende Herr Neunert von der täglichen Zeitung. Dazu ein wechselnder rüstiger Rentner des Mitteilungsblättchens, den man sich lieber hinter die Gardine zum Notieren von Parksündern wünschte - und meine Wenigkeit.

Die Pressekonferenz fand im Hinterzimmer einer Gastwirtschaft statt. Petra holte mich mit dem Wagen ab, schlecht gelaunt, da lediglich ein Kurzbericht für die Regionalsendung des Radios abzuliefern war, das Fernsehen die Bürgellsche Performance hingegen nicht der bewegten Bilder für wert befunden hatte.

In den vorderen Räumlichkeiten der Restauration lieferte man sich ein Wettbesäufnis - von der Kamera und dem marktschreierischen Moderator des privaten TV-Senders als "event" dokumentiert und nichts sonst als das Trauerspiel zweier prächtig debiler, durch Zurufe aus dem Publikum ins Hochleistungssportliche getriebener Jungtrinker. Petras Wut nahm zu, sie strafte den radauenden Kollegen mit Nichtbeachtung und ließ einen abschätzigen Laut aus dem Schlund.

Der rüstige Rentner, am aufgeklappten Spiralblock (liniert) stets zuverlässig zu identifizieren, überlegte noch, welchem der beiden Ereignisse der Vorzug des Reportierens zu geben sei, und ging die soeben aus einer Nebentür tretende Bürgell - 60 Jahre, blau kostümiert - um "was Schriftliches" zum Abschreiben an. Den Zettel in Händen zog er um, bestellte am Schauplatz des feuchten Spektakels ein "Bier mit Quittung, bitte", zückte den Block und befragte den Wirt, wieviel Gläser man wettkampfhalber schon geleert habe. Die Antwort vermerkte er penibel als fortzusetzende Strichliste.

Neunert rauchte Pfeife, sinnierte übers Große-Ganze und fummelte an seinem Diktiergerät. Er begrüßte uns kopfnickend.

Wir befanden uns - rein äusserlich, versteht sich - auf dem Niveau eines Stammtisches, denn just an einem solchen saßen sich die Parteien gegenüber. Die alleinsitzende Bürgell winkte dem Bedienfräulein und animierte uns, auf Kosten des Vereins Getränke zu bestellen. Bald darauf geschah etwas Ungewöhnliches.

Die von Frau Bürgell bei ihrem Eintreten benutzte Tür stand einen Spalt weit offen: ein mit trüber Beleuchtung gefülltes Viereck, durch das Schatten von Schatten huschten. Ich schaute auf den Spalt. Heute bin ich überzeugt, ein Stück der Zukunft gesehen zu haben, nicht der dinglichen, aber der meines Gemütszustandes. Meiner Seelenlage wurde vorab eine Kopie jenes inneren Aufruhrs übermittelt, der ihr in den kommenden Minute beschieden sein würde. Ich glotzte gebannt auf den Spalt, dieses Nichts, dieses fürchterlich banale Nichts, und meine sämtlichen Nerven begannen zu vibrieren, flackerten wie labile, kurz vor dem Kollaps stehende Stromleitungen. Es war Wirkung ohne Ursache, nein, besser: Wirkung vor der Ursache.

Dann wurde der Spalt breiter, zwei Personen betraten den Raum, vorweg ein dicklicher Herr im schlechtsitzenden Anzug.

Sie war aufgeregt, bemüht, sich zu beherrschen. Man merkte auch ihrem Begleiter an, daß irgendetwas sein inneres Gleichgewicht bedroht hatte, ein Feind der Contenance, den es zu bekämpfen galt. Er lächelte künstlich, rief: "Puh, heiss hier!", fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und schüttelte ihn komödiantisch aus, von einem einzigen, schrillen Lachton begleitet. Er hatte sich wieder in der Gewalt. Begrüßte die Bürgell mit Handkuss, zog den Stuhl unter dem Tisch hervor, drehte sich zu Diana, bedeutete ihr mit galantem Bückling, sich zu setzen.

Diana kämpfte noch immer. Sie setzte sich, legte die Unterarme auf die Tischplatte, domestizierte ihre wilden Finger, sagte dann, eine Oktave über ihrer normalen Stimmlage und nervös oszillierend: "Oh, wir haben uns verspätet, glaube ich. Entschuldigung."

Frau Bürgell begann mit der Pressekonferenz:

"Ich habe die große Ehre, Herrn Egbert hier in unserer kleinen Runde begrüßen zu dürfen. Herr Egbert hat, als Mitglied des Stadtrates, von Anfang an unsere Aktion ermuntert und unterstützt. Sicherlich ist es für die Medien von besonderem Interesse, seine Einschätzung als Privatmann, Familienvater, aber auch als Politiker kennenzulernen. Frau Weber, die ich ebenfalls recht herzlich begrüße, arbeitet für unsere Organisation auf dem Gebiet der Weiterqualifizierung jugendlicher Aussiedler. Ihre Erfahrungen im Umgang mit diesen - aus noch näher zu diskutierenden Gründen - speziell gefährdeten Jugendlichen wird eindrucksvoll unterstreichen, warum unsere Aktion von eminenter Bedeutung ist. Doch zunächst, meine Herrn, meine Dame - ich danke Ihnen, daß Sie erschienen sind und möchte gleich -"

Habe ich das gehört? Nur rekonstruiert, was nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit passiert sein musste? Ich kann nichts gehört haben. Ich konnte nur sehen.

Den umständlichen Bericht der Frau Bürgell wollen wir vergessen. Zu Egberts Ausführungen sei aus Chronistenpflicht angemerkt, daß es die erstaunlich undiplomatischen Bekenntnisse eines Polikers waren, der sich nicht scheute, seine Klientele zu düpieren. Ein Holzschnitt sei ein Holzschnitt, aber das Leben alles andere als duoton, das solle man nie vergessen, auch nicht, wenn man berechtigte Anliegen habe. Madame nippte am Apfelsaft und wünschte den Herren Egbert zum Teufel, dem indessen als Beschluss seiner Ansprache eine fulminante Volte gelang, die alles, was einem Zuhörer hätte sauer aufstoßen können, in leicht verdauliche Nahrung verwandelte. Ein ohne langatmigen Anlauf in die Welt gesetztes Kabinettstückchen, und selbst ein mit seinen Sinnen anders als ich bei der Rede Verweilender wäre außerstande gewesen, die Argumente und Meinungen des Herrn Egbert nachzuerzählen. Er musste wohl argumentiert, Meinungen vertreten haben: Wie sonst hätte er einen sonst so überzeugen können?

Dies am Rande. Es waren Nachrichten, die mich durchquerten und nur flüchtige Spuren hinterließen. Hinter der ausgefahrenen Ziehharmonikatür floss das Saufgelage seinem traurigen Höhepunkt zu. Die ihm gemäße bestialische Benutzung der Sprechwerkzeuge penetrierte die ernsthafte, fast akademische Akustik des Nebenzimmers auf das Surrealste und hätte mich bei anderer Gelegenheit belustigt. Heute nahm ich sie wahr, doch erreichte nichts davon meinen Verstand wirklich. Sie nur.

Wie soll man das erklären? Ich besaß als Kind ein Konvolut farbiger Bildchen von der Geburt Jesu zu Betlehem und habe mir einen Spaß daraus gemacht, Mutter und Ziehvater des Bengels sauber auszuschneiden und auf andere Fotos zu kleben. Wir sehen die weltlichen Gotteseltern auf dem Bürgersteig von Carneby Street, von zwei Minirockmädchen umstakst. Oder inmitten des langen Zuges deutscher Kriegsgefangener durch Sibirien. So ungefähr. Eine von unbekannter Hand geführte Schere schnippelte Diana und mich aus dem optischen Kontext, klebte uns auf marmorierte Pappe, deren Musterung an die himmlischen Wolken erinnerte, oder an das Unregelmäßige, Bedrohliche einer dunklen Vergangenheit. Wir waren allein. Wir kommunizierten mit den statuesken Nachbildungen unsererselbst. Ihr Haar war ergraut, das meine nur noch in Ansätzen vorhanden. Sie sah aus wie ein Kind, das aus Jux die Perücke einer Schauspielerin trägt, die eine alte Frau geben soll. Wir sandten uns Botschaften der Trauer und der Wut.

Nicht für lange. Bürgell und Egbert hatten ausgeredet, Diana wurde das Wort erteilt, und die unbekannte Person mit der Schere riss flugs Dianas Bildnis von der marmorierten Pappe und fügte es an alter Stelle wieder ein.

Ich bekam nicht mit, wovon ihr Monolog handelte. Ich sah ihre Lippen sich bewegen und war froh, keinen Schrei zu hören. Ich verglich ihren Mund mit dem Mund der Achtzehnjährigen: um die Winkel gewundene Kanäle, von trägen Strömen Zeit gegraben. Zeit, die sie gegen ihren Willen an Orten verbracht hatte, wohin sie die hämische Willkür eines Scherenbesitzers versetzt hatte. Hörsäle einer Uni, Klassenzimmer, das Bett eines Herrn Weber, das gemeinsame proppere Einfamilienhaus. Während ich weiter an der eilig und erbärmlich improvisierten Wiege stand und mit an sah, wie unser Messias alterte und schließlich starb. Ich spürte einen Heidenzorn auf die Zeit. Die Menschen. Die trostlosen Dinge. Mich. Mich.

Einige Anstandsfragen des Neunert beendeten die Pressekonferenz. Der rüstige Rentner, den Block voller sensationeller Worte, den Bauch voller Bier, streckte seinen Kopf dampfend zwischen die Hälften der Ziehharmonikawand, sah, daß es vorbei war und verschwand zur Siegerehrung des großen Wettkampfes, die wohl darin bestand, den Helden über die nächste Kloschüssel zu führen und sich auskotzen zu lassen. Ich kotzte im Geiste mit.

"Gehen wir doch lieber hier raus." schlug Frau Bürgell vor und meinte die Hintertür. Petra knallte mir beim Aufstehen den Ellenbogen an die Schläfe, schnaufte wütend und enteilte an der Seite eines nassglänzenden Egbert, hysterisch laut und hochtönend am Reden.

"Wir telefonieren." flüsterte eine Stimme.

Mir war, als hätte ich eben den größten Trunkenbold unter den Tisch gesoffen.

Egbert Karl-Olaf Horst Petra Malter Diana Weber
Egbert
Karl-Olaf Horst
Petra Malter
Diana Weber

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