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Die Nacht auf Donnerstag. Erinnere mich fatalerweise an 1972 und unser erstes Rendezvous im Sonnberger. Bin viel zu früh dran, warte draussen, muss rein, weil mich eine nervöse Reizblase piesackt. Bestelle einen Kaffee, damit ich das Klo benutzen darf, schlage ab, trinke den Kaffee und muss wieder aufs Klo. Bestelle einen neuen Kaffee und weiss, wies weitergehen wird. Halt Leute gucken, soweit das vom Nischenplatz aus möglich ist. Hoffentlich keine Bekannten. Auf Plattfüßen schlappt die Bedienung durch die schmalen Gänge, im Schutze der gigantischen Kaffeemaschine lauert Adlerauge, der Mundschenk, und ihm entgeht nicht, wenn eine Tasse leer, ein Stück Kuchen gegessen ist. Gibt der Bedienung einen diskreten Wink, schon schlittschuht sie herbei.

Im Sonnberger war die Zeit stehengeblieben. Sie hatte sich schon immer geweigert, auf Touren zu kommen, solange sie zwischen den Mauern des Cafés gefangen saß. Wer hier sitzt, hat eh nicht mehr viel Zeit, und die ist menschenfreundlich. Sie schenkt Langeweile. Sie verlängert das Leben um Stunden der Sinnlosigkeit. Ein Rentnercafé, und wir mussten auffallen, weil wir jung waren. Auch wir wollten die Zeit zum Stillstand bringen, um ein Befinden zu konservieren. So gesehen, war unsere Verliebtheit das gleiche wie die Angst der Alten vor dem Noch-älter-werden.

Jetzt hatte sich einiges geändert. Das Sonnberger, "in" geworden, verfütterte seine Kuchen an Müßiggänger, die sich um Zeit nicht kümmerten, denen sie lästig geworden war. Ich trank meinen Kaffee, ich schlug mein Wasser ab, ich beobachtete die Bedienung - nicht mehr die von 72, aber mit ähnlicher Plattfüßigkeit geschlagen. Noch drei Minuten, und Diana würde sich niemals verspäten.

Sie betrat das Sonnberger wie eine Diebin auf der Flucht. Drehte sich um, blieb für einen Gedanken zwischen zwei Wimpernschlägen stehen, verlor die Orientierung, machte einen Schritt zur Kuchentheke und brachte den Wirt dazu, hinter dem Schild seiner Kaffeemaschine hervorzuspringen, das Lächeln der Gewinnmaximierung im Gesicht. Diana sagte etwas, schüttelte den Kopf, wandte sich um und kam an unseren Tisch.

"Musste es wirklich HIER sein?" - Sie war unzufrieden mit sich selbst; eine souveräne Frau, in den Backfischteich geworfen und das Schwimmen nicht mehr gewöhnt.

"Sollen wir woanders hingehen?" Ich schaute mich nach der Bedienung um.

"Nein, nein, egal jetzt." Und setzte sich mir gegenüber, mit dem Rücken zum Gastraum.

Wir schauten uns an und dachten das gleiche. Und blinzelten uns verschwörerisch zu. Ich bestellte zwei Kaffee, für mich ein Stück Käsekuchen. Diana wollte keinen, und auch mir war eigentlich nicht nach süßem Gebäck.

Kaffee und Kuchen wurden gebracht, wir schwiegen weiter. Ich begann zu essen.

"Dass du essen kannst." lachte Diana, sie könne kaum den Kaffee trinken, dazu sei paradoxerweise ihr Hals zu trocken. Ich würgte meinen Kuchen runter, sagte vollmundig: "Warte. Schweig." Sie runzelte die Stirn, hielt sich aber an die Anweisung. Sorgfältig die Krümel auf die Gabel bringen - weg damit.

"So." Letztes Rumoren der Kaumuskeln. "Das Leben ist ein Kuchen, Diana. Wir haben gemeinsam ein Stück von ihm gegessen damals. Wir werden jetzt ein weiteres Stück von ihm essen. Das Stück dazwischen habe ich soeben weggeputzt. Ich werde Sodbrennen kriegen."

Sie beugte sich über den Tisch und gab mir einen Kuss auf den Mund.

"Und warum gerade Käsekuchen?"

"Weil alles Käse ist und ich für jeden Kalauer zu haben bin."

Sie nahm ihren Oberkörper zurück, saß kerzengerade.

"Oder Scheisse. Jetzt haben wir einen leeren Platz zwischen unseren Kuchenstücken."

"Wir schieben sie zusammen. Macht jede anständige Bäckereifachverkäuferin."

"Wenn das so einfach wäre. Sollen wir miteinander ins Bett gehen? Weitermachen, wo wir aufgehört haben? Liest du mir die letzte Seite deines Romanes vor, fahrig, weil du schon überlegst, wie er weitergehen soll?"

"Ich kann den Roman nicht mehr fertigschreiben."

"Ich kann mit dir ins Bett gehen. Ich könnte jetzt aufstehen und laut rufen: Seht her, mit diesem Mann da werde ich schlafen. Auf der Stelle. Lächerlich, nicht wahr?"

"Zu früh."

"Zu spät."

Wir hätten uns besser Briefe geschrieben, anstatt darüber zu reden, warum es nichts zu reden gab. Das Leben war kein Kuchen, wir beide keine Bäckereifachverkäuferinnen, die leere Stelle blieb eine leere Stelle. Es half auch nichts, daß Diana ein fettes Stück Torte aß. Sie hatte plötzlich Heisshunger bekommen, lümmelte vor der Kuchentheke als wäre Weihnachten, die Kuchentheke der Weihnachtsbaum und sie ein aufgeregtes Kind. Gut erzogen: Beim Essen wurde nicht gesprochen.

So benahm man sich auf dem Fussballplatz, nachdem den Akteuren eingeschärft worden war, sie dürften alles auf dem Platz machen, nur nicht den Ball berühren. Wir umtänzelten ihn; rannten auf und ab, um uns unsere Kondition zu beweisen.

Ich orderte einen Schnaps für mich, einen Likör für Diana. Berüchtigt ihr "Schwarzer Kater"-Konsum damals, den hatten sie hier aber nicht.

"Um Himmelswillen, für mich keinen Alkohol. Du weisst ja selber, daß ich keinen vertrage."

Ich begleitete sie zu ihrem Wagen. Er war auf dem Schulhof abgestellt, den ich diesmal nicht betreten wollte.

"Machs gut."

Sie repetierte. Sah mich an, als erblicke sie etwas Schreckliches, fing sich und ging durch das Tor. Ich machte mich davon.

Donnerstag. Was für ein Donnerstag. Im Bistro, wo Schiever ein Abendessen verzehrte, besoff ich mich, kippte die Vergangenheit in mich hinein, einen schäbigen und verzehrenden Trost.

"Sauf nicht so viel." Schiever schob mir seinen Nachtisch hin, Eis mit heissen Himbeeren. "Jetzt kriegste hier auch nur 'Menü'! Zwangsmaßnahmen sind das!"

War nicht gut reden mit mir. Wein macht weinerlich, Bier gebiert Jammerlappen, Schnaps ist Schnaps. Über solche Witze konnte ich lachen.

Der Herausgeber drückte mich brüderlich. "Krise, mein guter alter Kumpan. Erzähl MIR bitte nicht, was eine Krise ist. Wo drückt der Schuh, na? Zahl ich dir zu wenig? Ich will dir mal was sagen: Ich zahl dir viel zu viel. Andere mit deinem Arbeitsoutput müssten zum Sozialamt. Gutmütigkeit. Pure Gutmütigkeit. Oder hältst du den Scheiss, den du schreibst, etwa für Scheiss, den du nicht schreiben willst? Dann schreib doch'n Roman! Wirst schon sehen, wo du damit endest!"

Gab ihm keine Antwort. "Liebeskummer?" insistierte er weiter. Das Dessert war inzwischen doch im Armageddon seiner Magensäfte aufgerieben worden ("Solche Witze findest du komisch? Tust mir leid!"). "Sag schon: Will die Kleine nicht mehr? Will sie zuviel?"

Ich überredete ihn mitzutrinken. Zwei Stunden später kannte ich seine sämtlichen Eheprobleme, Versagensängste und sonstigen Bekümmertheiten. Wie du es anstellst ist es verkehrt.

"Tschüs, Chef." Zwei Finger stramm an die Schläfe schnellen lassen, zack-zack, und heimwärts.

Nahm den Umweg durch die Mörickestraße, passierte den Schulhof, zu duhn, rechtzeitig den Bürgersteig zu wechseln. Ihr Auto stand noch da. Es war nicht Mittwoch. Ich lief hin und fand den Wagen leer. Gegen das linke Vorderrad gelehnt saß ich, schlief ich, wurde ich wach, schlief ein. Mich fröstelte. Längst war es Nacht geworden, tröpfelte es. Drei Runden ums Karree für einen halbwegs klaren Kopf, der im Endeffekt doppelt so schwer wie vorher war. In die Knie gehen, auf allen Vieren zum Auto krabbeln und wieder lehnte ich am Rad, fing Regentropfen im Maul, schloss die Augen. Als ich sie öffnete, kniete sie vor mir in der Hocke.

"Blödmann, du."

Sie hatte sich die Fingerspitzen auf den Mund gelegt; ein guter Brauch bei Menschen, die zum erstenmal in meine Wohnung kommen. Ich betete zu Gott, sie möge nicht anfangen aufzuräumen. Oh, sie war betrunkener als ich!

 

Karl-Olaf Horst Wilfried Schiever Diana Weber
Karl-Olaf Horst
Wilfried Schiever
Diana Weber

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