35/54

Glauben Sie an psychische Inversion, Gesine? Lassen Sie es mich so erklären: Was schwarz war, wird weiss, und das Helle verdüstert sich. Ein junger Hund schnüffelt spielerisch herum, verliert die Fährte und nimmt sie - zufällig oder aus einer Laune heraus - wieder auf, bis er eines Tages müde und hungrig vor der gleichen lausigen Hundehütte landet, die einst verlassen wurde, weil einem die Witterung in der Nase kitzelte. So einer war ich.

Ein gewöhnliches Läuten an meiner Wohnungstür änderte alles. Ich wurde zum Bluthund, gewillt, nicht aufzugeben, bevor die Quelle der Witterung aufgestöbert sein würde. Sie können das einen radikalen Einstellungwandel nennen, eine Umkehrung der bisher so gehegten Charaktereigenschaften. Aus Zaghaftigkeit wird Entschlossenheit, pragmatische Diplomatie weicht dem direkten Ansteuern einer Utopie, Sensibilität schlägt um in Brutalität. Man vollzieht diesen Wandel nicht allmählich. Er ist kein Lernprozess. Er kommt von einer Sekunde auf die andere.

Die Türklingel an diesem Samstag, 17 Uhr, im Radio die Konferenzschaltung der Bundesligaspiele. Vor zwei Tagen hatte ein seltsames Pärchen in einem Café gesessen, sich anschließend separat betrunken, im selben Bett die Nacht verbracht. Heute horchte der Mann den Schilderungen phonophiler Schwätzer. Vor der Tür stand ein ziemlich dicker Mensch im grauen Anorak. Mein "Ja, bitte?" ging in seinem "Jüschling, Kriminalpolizei" verschollen. Er hielt mir einen Ausweis hin und tappte in den Flur.

"Darf ich reinkommen?"

Im Wohnzimmer lärmte die Fußballübertragung, Jüschling, kein Freund des Passivsportes, bat um Ruhe.

"Und? Worum geht’s?"

Er setzte sich auf die Couch.

"Darf ich mich setzen?" (Etwas in seiner Wort/Taten - Koordination schien reparaturbedürftig.)

"Kennen Sie Hanns-Lothar Weber?"

"Nein." antwortete ich einigermaßen ehrlich.

"Aber Diana Weber kennen Sie?"

Jetzt mal vorgehen wie ein Beamter.

"Darf ich noch einmal Ihren Ausweis sehen? Welche Abteilung sagten Sie? Tötungsdelikte? Was führt Sie zu mir?"

Er streckte seine Beine, daß die Kniegelenke knackten.

"Aaah. Das Wetter. Wenns so nasskalt ist. Ja; also. Die Putzfrau der Familie Weber, von der Sie - darf ich das voraussetzen? - wenigstens die weibliche Hälfte kennen, die Putzfrau nun entdeckte, als sie in die Wohnung der Webers kam um zu arbeiten, die Leiche des Hausherrn im ehelichen Schlafzimmer."

Punkt. Ich setzte mich neben Jüschling auf die Couch.

"Und Frau Weber?"

"Die Sie kennen?"

"Wir sind zusammen in eine Klasse gegangen und - waren auch enger befreundet. Wie geht es ihr?"

"Ja; also. Frau Weber. Die ist verschwunden. Könnte es sein, daß Sie wissen, wo sie sich aufhält?"

"Nein. Woher."

"Ich habe ja nur gefragt. Herr Weber wurde am Freitagvormittag ermordet. Gestern also."

"Ermordet? Sicher?"

"Einer, dem mit einem schweren Gegenstand der Schädel eingeschlagen wird, ist sicher ermordet worden. Und wenn dieser Gegenstand am Tatort nicht aufzufinden ist, sogar sehr sicher. Das lehrt uns die Berufserfahrung."

Ich mochte seinen Humor. Schade nur, daß der sich Jünschling als Wirtskörper ausgesucht hatte.

"Verstehe. Und Frau Weber verschwunden. Und ich? Wie kommen Sie jetzt auf mich?"

"Och -." Der Polizist probierte ein wissendes Grinsen. "Sie haben Sie doch gekannt. Gut gekannt. Wann zum letztenmal gesehen?"

"Vorgestern. Wir waren Kaffee trinken." Hat keinen Zweck zu lügen.

"Bis halb neun abends?"

"Danach ein Bierchen in der Kneipe."

"Und dann?"

"Tschüs gesagt." Scheisse.

"Ich will nicht drumherum reden, Herr Horst. So einer bin ich nämlich nicht, der drumherum redet und die Leute aufs Glatteis führt." Er machte ein Gesicht, als wäre er haargenau so einer. "Gegen halb neun am Freitag ist ein Auto über eine rote Ampel gefahren." (Ich hatte Ihr noch gesagt, wir sollten lieber zu Fuß gehen. Ist doch nicht weit vom Gymnasium bis zu meiner Wohnung. Wenn zwei Besoffene sich gegenseitig stützen, sehen Sie aus wie zwei Nichtbesoffene. Nichts zu machen. Sie lenkte das Auto durch den Verkehr, als gäbe es keinen.) "Hübsches Foto wurde dabei geschossen. Können Sie bei Gelegenheit sehen. Machen da drauf, wenn ich das sagen darf, nicht den glücklichsten Eindruck. Alle beide nicht. Verbiestert son bisschen. Die Ampel steht übrigens beinahe vor Ihrer Haustür."

"Sie hat mich heim gefahren."

"Also. Kommen wir der Sache schon näher. Und sie ist mit rauf gegangen?"

"Ja."

"Und wie lange geblieben?"

"Nicht lange. Einen Kaffee lang."

"Hm." Er stand auf. "Und das ist die Wahrheit?"

"Denke schon."

"Denken Sie. Ich bin von der alten Schule, Herr Horst. Manche Menschen begreifen ja nicht, in welcher Situation Sie sich befinden, weil sie sich nicht vorstellen können, was eigentlich passiert ist. Eine Ausnahmesituation, Herr Horst, und daher schildere ich den Leuten immer ein wenig das Milieu sozusagen. Haben Sie schon mal Blut gesehen, Herr Horst? Sehr viel Blut?"

"Wieviel?"

"Literweise. Um den Kopf des Opfers herum ist es seltsam weisslich, das Blut. Das ist Hirn. Der Tote liegt vor dem Bett, und wenn mir nach Komik zumute wäre, Herr Horst, würde ich sagen, er liegt auf einem roten, unregelmäßig geschnittenen Bettvorleger. Mir ist aber nicht nach Komik zumute."

"Ich weiss jetzt, was passiert ist. Aber ich weiss noch immer nicht, in welcher Situation ich mich Ihrer Meinung nach befinde. Lassen Sie mich raten: Frau Weber und ich haben ein Verhältnis. Wir verbringen die Nacht von Donnerstag auf Freitag in meiner Wohnung, verabreden die Ermordung Ihres irgendwie deplazierten Gatten, führen die Tat aus, und Frau Weber verschwindet spurlos, damit die Polizei nicht lange nach Tatmotiv und Täter suchen muss. Sind ja schliesslich auch unsere Steuergelder. Wenn mir nach Komik zumute wäre, Herr - wie war doch der Name? - Herr Jüschling, würde ich sagen: Da hätte ich doch besser Frau Weber erschlagen und den Mord Herrn Weber in die Schuhe geschoben. Wäre ich ihn auch losgewesen, und Frau Weber sowieso, die ja durch ihr Verschwinden Ihrer Meinung nach so etwas wie ein Schuldeingeständnis abgegeben hat und für weitere Unzucht meinerseits nicht mehr zur Verfügung steht."

"Ist Ihnen nach Komik zumute?"

"Seit 25 Jahren."

"Sie Glückspilz. Aber der erste Teil Ihrer Geschichte - Sie haben die Nacht mit Frau Weber verbracht -, der kommt mir schon ziemlich wahrheitsgemäß vor. Warum auch nicht? Eine attraktive Frau. Figur wie ein junges Mädchen, und als junges Mädchen hat sie - seis drum. Könnte doch auch so gewesen sein: Sie verbringt die Nacht mit Ihnen, kommt am nächsten Morgen heim. Der Ehemann stellt sie zur Rede, großer Streit. Gerade unter gebildeten Leuten, die ansonsten keiner Fliege etwas zu leide tun können, artet das oft aus. Sie greift sich irgendwas Schweres und schlägt zu. Kein Mord. Totschlag. Vielleicht Notwehr. Und Sie vollkommen aus dem Schneider. Sollten Sie sich überlegen. Rufen Sie mich an."

Der große Unbekannte Karl-Olaf Horst Gesine Krund Diana Weber Herr Weber
Der große Unbekannte
Karl-Olaf Horst
Gesine Krund
Diana Weber
Herr Weber

Folge 34 Hauptseite Folge 36