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Der 4. Juli, ein sonniger Samstag. Gesine, das ist zu vermuten, glänzt gecremt auf der Liegewiese irgendeines Freibads, von plärrenden Gören und Kofferradios genervt, Sand und Gras an den Fusssohlen, mit ihren Gedanken bei einem Eis oder einem Kaffee, einer Abkühlung und, mag sein, einer nächtlichen Zigarette in invalider Gesellschaft.

Ich verbringe den Tag mit Lesen und Musik hören, gönne mir einen Ritt auf der Pfanne und warte ansonsten auf den Abend.

England gegen Deutschland, beginnt Joe seine Vorbemerkungen zum Spiel, das sei das dritte Tor von Wembley. Ein Mythos, weit über die Grenzen des Sportes hinaus, ein kollektives Trauma, das man dem deutschen Lebensbaum injiziert habe, und es kann selbst in den feinsten biografischen Verästelungen nachgewiesen werden.

"Ich bin ein Kind vom Land" bekennt Joe "und habe - als Dorfschüler! - den Studenten und ihren Protesten nichts abgewinnen können, brav meinen Fassonschnitt linksgescheitelt getragen, wiewohl mich die Uschi Obermeier, die Barbusige von der Kommune 1, nicht kaltgelassen hat. Uschi Obermeier, die auch kein Abitur hatte. Eines Tages veröffentlicht die Bildzeitung ein Foto, welches eindeutig belegt, das verfluchte dritte Tor von damals, 66, sei keins gewesen, der Ball von der Latte zurück ins Feld gesprungen, jedenfalls vor der Torlinie aufgekommen. Genau diesen Moment zeigt das Foto: Der Ball berührt den Rasen NICHT hinter der Linie. Somit alles Lug und Trug, Schall und Rauch, England ein Weltmeister von russischen Linienrichtergnaden. Und ich habs lange Zeit geglaubt - paar Wochen, aber das war eben eine lange Zeit für nen kleinen Bub. Bis mir ein älterer Freund etwas über Zweidimensionalität und optische Täuschung erzählte. - Ah ja, Freunde, das Spiel fängt gerade an, aber die werden jetzt erst so rumtaktieren, ich kann also diesen wichtigen Gedanken noch zu Ende spinnen. Der Freund also sagte: 'Stell dir vor, du stehst auf einem Hügel, und dein Vater steht vielleicht zwanzig Meter entfernt' - Fehlpass Jeremies - 'hinter einem Zaun. Er hattn Fotoapparat dabei und will dich knipsen. Geht in die Knie und schaut, daß der obere Rand des Zaunes praktisch die untere Begrenzung des Bildes wird. Jetzt geht er noch etwas mehr in die Knie, so dass es ausschaut, als stündst du auf dem Zaun. Das ist optische Täuschung.' - Heinrich, der linke Flankengott: Es ist zum Atheistischwerden! Ball direkt auf den Kopf des Gegners. - 'Jetzt', hat mein Freund weiter gesagt ', schau dir mal das Foto in der Bildzeitung an. Da ist der Rasen nicht eine Fläche, sondern wirkt wie eine Mauer. Senkrecht. Er hat nämlich keine Tiefe, ihm fehlt die dritte Dimension. Der Ball scheint den Rasen zu berühren und zwar weit vor der Torlinie, aber wenn das Bild fünf Hundertselsekunden oder so später aufgenommen worden wäre, würdest du sehen, daß der Ball noch in der Luft ist, was du aber nicht erkennen kannst, weils eben keine Tiefe bei Fotografien gibt. Das Foto beweist also gar nichts, die Bildzeitung lügt.' - Ich habs nicht ganz verstanden, geb ich zu. Aber die Brandanschläge auf das Springerhaus damals, die schienen mir jetzt doch irgendwie gerechtfertigt. Ich hab Marcuse gelesen, und Uschi Obermeier hiess nun Karin Müller, wohnte eine Straße weiter und haschte und hatte keinen BH an. Das ist meine persönliche Story zum dritten Tor. Kommen wir zum Spiel."

Es zeigt sich schnell, daß die Engländer mit Scholes, Owen und Shearer über ein ballsicheres und zu überraschendem Kombinationsfussball fähiges Stürmertrio verfügen, das Wörns, Kohler und den verteidigenden Rest deutscher Nation alt aussehen läßt. Köpke rettet mehrmals in letzter Sekunde, ein Kopfball des aufgerückten Dingsbums (Joe hat den Namen nicht mitgekriegt) streicht knapp über die Latte. Unsere alte Krankheit: Die Pässe und Flanken kommen nicht. Heinrich und Ziege Totalausfälle, im Mittelfeld müht sich Thon redlich, steht aber Möller im Weg und umgekehrt. Klinsmann holt sich den Ball des öfteren weit vor dem Strafraum, Bierhoff mit dem Radius eines Bierdeckels. In der 32. Minute wagt Matthäus eine Verzweiflungsaktion, dribbelt mit dem Ball aus der eigenen Abwehr bis zum englischen Strafraum und zieht ab: Seaman hält. Direkter Gegenzug. Verteidiger Adams auf Kollege Anderton, der zu Beckham. Beckham sieht, daß zwischen ihm und Köpke nur noch Kohler und Wörns stehen, er weicht auf die linke Seite aus, Kohler und Wörns stürzen sich auf ihn, Beckham spielt den Ball auf den mitgelaufenen Owen, Kohler und Wörns rennen gegen die Bande, Owen direkt auf Köpke zu, umkurvt ihn, schiebt die Kugel ins Netz. 0:1 aus Sicht der Deutschen.

Zweite Halbzeit: Kirsten für Heinrich. Deutschland versucht Pressing im Mittelfeld, die Engländer jetzt verstärkt defensiv, auf die Sprintqualitäten ihrer Stürmer vertrauend. Abermals Matthäus mit Alleingang: wird kurz vor der Strafraumgrenze gelegt, die Chronisten schreiben die 56. Spielminute, als Möller den fälligen Freistoß fulminant über die Mauer hebt, am regungslosen Seaman vorbei. 1:1.

Nachspielzeit. England hat sich noch zwei, drei gute Chancen erarbeitet, doch vor allem Shearer, zuverlässiger Kopfballer sonst, trifft das Tor nicht. Bei einem der seltenen Entlastungsangriffe der deutschen Mannschaft kommt es zu Konfusion in der englischen Abwehr, Adams drischt das Leder unmotiviert ins Seitenaus. Thon zur Ecke. Der Ball fliegt hoch in den Strafraum, Klinsmann, Kirsten und Bierhoff steigen, von je einem Engländer flankiert, hoch, verfehlen den Ball allesamt. Der kommt vor die Füße des überraschten Ziege, der einen Schritt nach vorne macht, als wolle er weglaufen, dabei mit der Spitze des Fusses den Ball berührt und ins Tor drudeln lässt. 2:1, Abpfiff.

Halbfinale Mittwoch? Frankreich oder Norwegen? Norwegen, tippt Joe, und er hat einen guten Riecher.

 

Karl-Olaf Horst Gesine Krund Andy Möller
Karl-Olaf Horst
Gesine Krund
Andy Möller

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