45/54

Heute am Mittwoch ist Gesines erster Arbeitstag nach dem Urlaub. Gestern hat sie mich angerufen, ganz besorgte Mama, "aber bilden Sie sich bloß nicht ein, das wäre ein Besorgte-Mama-Anruf. Wie fühlen Sie sich? Sonst alles in Ordnung?"

Sie gesteht, auf ihrem winzigen Balkon sonnenzubaden, Ozon hin, malignes Melanom her. Selbstredend schmökert sie dabei in "einer Biografie" und hat "einen Toskana-Bildband" in Reichweite. Gibts eigentlich noch andere Bücher für höhere Töchter?

"Was haben Sie gerade an?" frage ich galant und ernte wütendes Schnauben in homöopathischer Dosis. Ob sie mir das Päckchen - "Sie wissen schon." - mitbringen könne morgen abend? Das Schauspiel geht in seinen letzten Akt, vergessen wir die Exposition, die Ent- und Verwicklungen, packen wir aus. Hinter der Bühne tigern die Komödianten lampenfiebrig ab und ab.

Norwegen - Deutschland, Halbfinale. Wir sind uns einig, daß die Deutschen als Rächer Marokkos, der kompletten Dritten Fußballwelt auftreten müssen, lustig flattern die Wimpel der Gerechtigkeit und der Bestrafung am Torpfosten. Unsere traditionelle Sympathie für Skandinavien steht dagegen, aber Joe meint auch, so etwas dürfe nicht zählen. Wörns und Kohler sind von Berti auf körperloses Spiel geeicht worden, wegen Flo, dem ungekrönten Schwalbenkönig. Das erinnert mich sofort an meinen Vetter Rüdiger, der seiner Katze das Bellen beibringen wollte. Nicht am Trikot ziehen, keine Blutgrätsche, keine Rempler. Haut ihn vor dem Sechzehner aus den Socken.

Es entspricht norwegischer Taktik, den Deutschen das Mittelfeld kampflos zu überlassen. Sie können eh nichts damit anfangen. Möller, Held gegen Holland, delegiert mal wieder die Verantwortung und erhält den Beinamen "Niete gegen Norwegen". Matthäus, Libero beckenbauerscher Prägung, furchtelt mit den Armen - "drauf, drauf - vor, vor!" -, und Thon, zum Kreativabteilungsleiter bestimmt, steht im Anstoßkreis wie Napoleon auf einem Maulwurfshügel bei Waterloo. Hilflos, entsetzt, gelähmt.

Der Nordländer Sieg gegen Frankreich - dreimal dürfen Sie raten, wer das Siegtor geschossen hat - bringt das Publikum auf unsere Seite. Ein Heimspiel. Für unsere Hooligans können wir nichts, für unsere SS haben wir ja auch nichts gekonnt. Das kapiert der Franzose, und wir, die Rächer Marokkos, werden überdies zu Rächern Frankreichs.

"Sie müssen das Kurzpassspiel pflegen!": Joe verzweifelt, denn wenn die heute irgendwas pflegen, dann sich selbst. Die Norweger geben sich zum Ende der ersten Halbzeit aggressiver, Torchancen bleiben aus. Halbzeit zwei zerfällt in drei dramatische Teile: Zunächst zehn Minuten deutsches Ärmelaufkrempeln, das immerhin eine Chance für Klinsmann abwirft, die dieser aber leichtfertig vergibt. Daran anschließend zwanzig Minuten muntere Attacken beider Parteien, erhitzte Gemüter und die Abkehr vom körperlosen Spiel. Alles konzentriert sich im Mittelfeld, Möller ist unter den Pfiffen der deutschen Schlachtenbummler ausgewechselt worden, Vogts bringt mutig Kirsten als hängende Spitze. Die letzten zehn Minuten dienen der Vorbereitung auf die Verlängerung. Zwei Minuten Nachspielzeit werden annonciert, Matthäus hält den Ball, trägt ihn in die gegnerische Hälfte, die Norweger ziehen sich zurück. Was soll er machen, der Lothar? Quergeschiebe: Ziege - Thon - Matthäus - Kirsten - Klinsmann - Matthäus, so nähert man sich behäbig dem norwegischen Strafraum, aus dem jetzt zwei Verteidiger heranpreschen. Matthäus, in berechtigter Sorge um seine körperliche Unversehrtheit, schlägt den Ball in den Strafraum, wo ihn ein norwegischer Spieler abfängt und seinem Torwart übergeben möchte, dies aber nur mit dem Kopf darf. Für ewige zwei Sekunden steht also dieser Mensch - es ist Flo - mit dem Ball am Fuß, dann lupft er ihn hoch bis auf Kopfhöhe und nickt ihn zu seinem Torwart. Der ist überrascht, kann den Ball nicht festhalten. Er fällt ihm vor die Füße, der schockierte Flo schickt sich an, die Kugel ins Seitenaus zu dreschen, eine Absicht, die auch der Torhüter hegt, und beide hauen gegen den Ball, der kreiselnd hochsteigt, eine Ellipse beschreibt, ins leere Tor sinkt.

Wir sind im Finale. "Nemesis" philosophiert Joe, "laut meinem Wörterbuch die für ausgleichende Gerechtigkeit zuständige griechische Göttin, Nemesis kullert sich vor Hohnlachen am dunklen, wolkenlosen Pariser Firmament." Du sagst es, Joe.

Schlag zwölf vom Kirchturm, die weisse Frau schwebt herbei.

"Schlafen Sie noch nicht?"

Was für eine Frage! Sechs Tage in der Wüste, und dann wird man gefragt, ob man Durst hat!

Gesine legt das Päckchen auf den Nachttisch. Sie hat Farbe bekommen, ein gleichmäßiges dunkles Beige. Sie beugt sich zu mir.

Zwanzig Minuten nach zwei, am Fenster. "Hast du das Geld genommen? Dich bestechen lassen?"

"Ich hatte Auslagen. Und bis Ende Mai ein gediegenes Konzeptpapierchen parat. Unterwegs mit Egbert. Die legendären verrauchten Hinterzimmer in Dorfwirtschaften, der Vorsitzende des Ortsvereins pafft Stumpen, und Egbert parliert über die Integration von Ausländern und die Einrichtung von Kinderspielplätzen. Ist einfach kein Politiker, der Mann. Wie soll ich das erklären? Er besitzt alle Eigenschaften, politische Karriere zu machen, aber - gelernter Jurist. Als gütigen Richter könnte ich ihn mir vorstellen. Oder auch nicht. Nein, eher nicht."

"Die meisten Berufe sind trostlose Angelegenheiten." stellt Gesine fest.

"Deiner auch? Für dich?"

"Schon möglich. Frag mich nicht, was die Alternative sein könnte. - Du bist also mit Egbert überland gefahren. Wozu eigentlich? Habt ihr geredet? Ich meine - DARÜBER geredet? Was wolltest du eigentlich?"

"Das Dumme war: Ich mochte ihn. Er ist ein armes Schwein. Ich musste mir etwas überlegen. Ich habe mir etwas überlegt. Und dann, am 5. Juni, einem Sonntag, wir waren wieder bei einer dörflichen Veranstaltung..."

 

Egbert Andre Flo Karl-Olaf Horst Gesine Krund Andy Möller
Egbert
Andre Flo
Karl-Olaf Horst
Gesine Krund
Andy Möller

Mitteilungen des Autors

 

 

Folge 44 Hauptseite Folge 46