Es war alles so einfach gewesen! Er hatte es gewusst! Nichts war ihm wirklich schwer, denn die Menschheit war so doof, so schrecklich doof, dass selbst ein Furz, den ER ließ, sofort als Weltkulturerbe anerkannt werden würde.
Die Pille? Kein Problem! Er war ein genialer Chemiker und Pharmazeut. An der armen Nachbarskatze hatte er sie ausprobiert. Dem Tier (damit war nicht der deutsche Fußballnationaltorwart gemeint) auf den Schwanz getreten und der Dinge geharrt, die da kommen würden. Und sie waren gekommen. Zum Nachteil der Katze natürlich, was ihm Leid tat, aber selbst die unschuldige Kreatur musste Opfer bringen auf seinem Rachefeldzug gegen die brotdumme Menschheit.
Dann hatte er sich am Hintereingang der Dietmar-Dielen-Gedächtnishalle postiert und gewartet. Am späten Nachmittag waren die ersten Redakteure erschienen, hatten dem Wachmann ihre Ausweise präsentiert und wurden hineingelassen. Er hatte sich ungezwungen zu dem Tross gesellt, kein Mensch hatte etwas bemerkt. Jetzt stand er in der Halle, fand auch rasch die Garderoben und verkroch sich in der, an deren Tür in großen Lettern «Bastl Schwammerlkaas» stand.
Bastl Schwammerlkaas taumelte noch immer. So schnell war alles gegangen! Gestern noch ein vierzehnjähriger, pickliger Jüngling, der Französischvokabeln büffelte, Dreisatzaufgaben löste und Aufsätze schrieb, die Titel trugen wie «Was ich einmal werden will, wenn ich zeugungsfähig bin». Und heute? Ein Star! Er war bis ins Halbfinale von «Deutschland pfeift auf den Superstar» vorgedrungen, wo er zusammen mit seinen Konkurrenten um die Gunst eines Millionenpublikums sang. Man liebte ihn. Kleine Mädchen warfen ihm Teddybären und Pampers zu, Mütter wünschten ihn sich als Schwiegersohn, und in unvorstellbare Ferne waren für Schwammerlkaas jene Momente seiner finsteren Jugend gerückt, da er auf dem heimischen mecklenburg-vorpommerschen Bauernhofe den Kühen vorgesungen und von der großen Karriere geträumt hatte.
Jetzt duellierte er sich mit dem Besten, was Deutschlands Sangeselite zu bieten hatte: dem öligen Willibrord Brasch, einem bereits 17jährigen Fastabiturienten, der das hohe C nicht nur trinken, sondern beinahe auch singen konnte, der göttlichen Yvette LaBitch, von der es hieß, sie könne die neue Liza Minelli werden, wenn sie doch nur einen richtigen Ton treffen würde, und der sehr kindlichen Jessica Puller, die dem Rock'n'Roll die besten Jahre ihres Lebens geschenkt und nichts als Gegenleistung bekommen hatte, von einer unehelichen Tochter abgesehen.
Im Halbfinale, dem Ganzdeutschland entgegen fieberte, waren die Kandidaten verpflichtet worden, ihre Lieblingssongs zu Gehör zu bringen. Schwammerlkaas hatte sich für den Velvet-Underground-Klassiker «Waiting For My Man» entschieden, Brasch gedachte, sich an dem Fleetwood-Mac-Evergreen «Albatross» zu versuchen, während die LaBitch eigenkehlig ein Patti-Smith-Potpourri namens «Ihre größten Erfolge» zusammengestellt hatte. Nur Jessica Puller schwankte. Sollte sie einen steinalten Deltablues von Bessie Smith zum Besten geben oder doch lieber Tic Tac Toes sozialkritisches Meisterwerk «Ich find dich Scheiße»? Letzteres, entschied sie schließlich, denn man hätte sonst vielleicht Patti Smith mit Bessie Smith verwechselt und die vielen schönen Punkte wären an die ebenso vollbusige wie in bestimmten Situationen breitbeinigere LaBitch gegangen.
Sofort war Schwammerlkaas in seine Garderobe geeilt, wo schon ein guter dienstbarer Geist damit beschäftigt war, Getränke bereit zu stellen und diverse Drogen anzubieten. Denn eins hatte Bastl begriffen: Im Showgeschäft dreht sich alles um Sex and Drugs and Rock'n'Roll! Man musste sich schmutzige Gedanken machen, Marlboro Light über die Lunge rauchen und ständig «Rock around the clock» singen. So wollten es die ehernen Gesetze der Branche. Dankbar nahm Bastl die Pille, die ihm der Bedienstete reichte, schluckte sie mit etwas Krimsekt und begann sich umzuziehen.
Langsam füllte sich das Auditorium. Er hatte in einer von keinem Scheinwerfer ausgeleuchteten Ecke Platz genommen. Seine Hände begannen feucht zu werden, was ihm missfiel. Er brauchte sich vor nichts zu fürchten. Die Dinge nahmen ihren Lauf, sie wendeten sich zum Besseren, denn in knapp einer Stunde wäre die Welt von vier Nervensägen mehr befreit.
Schwammerlkaas begann den Contest mit «Waiting For My Man». Er sang dieses Lied, in dem Herr Lou Reed auf seinen Heroindealer wartet, in einer leicht entschärften, auf den deutschen Massenmarkt zugeschnittenen Version. Schwammerlkaas steht mit vier feuchtwarmen Eurostücken im Patschhändchen am Zigarettenautomaten, um sich ein Päckchen Ernte 23 zu stechen, so jedenfalls klang es, und das Publikum litt sichtlich mit dem Interpreten, selbst die Nichtraucher.
Nachdem Bastl seine Darbietung mit einem flotten «Peace for all!» beendet hatte, raste das Publikum in seiner gewöhnlichen Weise und verlangte nach einer Zugabe, welche aber nicht vorgesehen war, da ein neuer Werbeblock gesendet werden musste.
Inzwischen rann ihm der Schweiß maßlos aus sämtlichen Poren. Brav klatschte er nach jeder der schauerlichen Darbietungen fest in die Hände, und das salzige Wasser spritzte dabei nach allen Seiten weg. Es war Tarnung. Und es bereitete ihm Freude, für alle unsichtbar zu sein.
Gut, das war er eigentlich immer. Man nahm ihn wohl wahr, denn er hatte ein sogenanntes «öffentliches Amt», doch man vergaß ihn in dem Moment, in dem man ihn wahrgenommen hatte. Oder, schlimmer noch, man nahm ihn wahr und titulierte ihn sogleich ein Arschloch, eine Flasche, einen Lügner, einen Versager, einen Intriganten. Das war sein Schicksal.
Jetzt war er nur ein Fan. Mit falschen Haaren, falschem Bart und zwei dicken Ohropax-Stöpseln in den Gehörgängen. Ein Fan der älteren Sorte, von denen die naiven Optimisten doch erwarten mussten, die Dummheit sei vielleicht nicht weniger, aber doch eine andere geworden. Man jubelte in diesem Alter einer Caro Dingsbums oder wie die Schnepfe heißt zu, wenn sie ihre volkstümlichen Monster, ihre jodelnden Untoten und enzianpflückenden Mumien aus dem Gruselkabinett befreite und wie quiekende Säue durchs mediale Dorf trieb.
Doch in der Halle saßen zwischen den Vertretern der kreischenden juvenilen Dummheit auch die der geriatrisch drittzähnigen in verblüffender Zahl. Wie konnte ein Dreißigjähriger, Vierzigjähriger, Fünfzigjähriger einen Bastl Schwammerlkaas für die Offenbarung des Pop halten?
Na schön, wenn man am Zustandekommen dieser Mischung aus singender Pest und gestikulierender Cholera beteiligt gewesen war, mochte der Enthusiasmus zu verzeihen sein. Aber selbst eine Missgeburt wie Schwammerlkaas konnte schwerlich 2000 Elternpaare sein Eigen nennen. Oder doch? Entstehen solche Menschheitsplagen vielleicht dadurch, dass aus 2000 Lenden jeweils ein besonders schlechter Tropfen Sperma in einen aus 2000 zufälligen Details zusammengebosselten Schoß fällt, um ein Weltwunder namens Bastl zu erschaffen?
So musste es einfach sein, sagte er sich und hätte beinahe in die Hände geklatscht. Aber das durfte er nicht. Denn im Saal war es jetzt mucksmäuschenstill. Die Entscheidung nahte. Alle Halbfinalisten hatten ihren Teil am großen Verbrechen zulasten der Musik geleistet und betraten nun abermals die Bühne, um ein abschließendes gemeinsames Lied zu singen, bevor die unerbittliche Jury entscheiden musste, von welcher der Hackfressen sie die fernsehende Gemeinde zukünftiglich zu verschonen gedachte. Er atmete tief die verbrauchte Luft des Saales ein. Gleich wäre es soweit. Gleich.
Aber es war Zeit für ihn, den Ort der bald zu beklagenden traurigen Ereignisse zu verlassen. Nicht vorzustellen, dass man ihn nach der Tat als Zeugen verhören würde. Außerdem musste er die Koffer packen, denn morgen ging es auf Dienstreise. Er hasste Dienstreisen, vor allem, wenn sie nach Österreich führten, denn er hasste die Österreicher noch mehr als die Holländer, was für einen Deutschen eine reife Leistung ist. Sie waren das Grundübel auf diesem Planeten, sie hatten mit Mozart, Hitler und Falco drei schreckliche Geißeln auf die Menschheit losgelassen. Ja! Er würde sie vernichten! Nicht jetzt. Immer der Reihe nach, immer einer mehr. Aber dann!
Unauffällig erhob er sich von seinem Platz und strebte dem Ausgang zu. Dort stieß er beinahe mit einer Gruppe atemlos den Saal erstürmender Männer zusammen, von denen einer blutüberströmt auf Russisch fluchte. Den ersten der Vier kannte er von irgendwo her, und auch der schien seinen Beinahekollisionspartner zwar nicht zu erkennen, doch im hintersten Winkel seines Gedächtnisses zu ahnen, er kenne ihn. Rasch wandte sich der Hinauseilende ab und setzte seinen Weg nach draußen fort. Dort nahm er das Ohropax aus seinen Gehörgängen und atmete tief die frische Luft des lauen Abends.
Im Nachhinein erinnert sich kein Mensch mehr daran, welches Lied die Vier intonierten. Es bestand aus vielen englischen Wörtern für Anfänger und maximal sieben verschiedenen, in immer neue Verbindungen gebrachten Tönen. Es sollte damit enden, dass Bastl, ausgerechnet Bastl, seine Stimme bis in die Gefilde des hohen C schwänge, ein fast hoffnungsloses Unterfangen. Um es dennoch zu bewerkstelligen, hatte man sich einen Trick ausgedacht. Kurz bevor Bastl zum hohen C ansetzen würde, sollte ihm Jessica Puller von hinten in den Schritt greifen. Dann, so die Hoffnung, käme das hohe C wie von selbst.
Das Publikum raste. Die drei Mitkonkurrenten umtanzten Bastl, der soeben die letzte Strophe des, wie man in der Musikbranche sagt, «love songs» anstimmte:
Rock'n'Roll ist excellent
So it says my management.
But one thing ist very better
And this is your loving letter.
So at last I have to say
Fly o fly and go away.
Genau bei diesem »away" sollte Bastl auf den Gipfel der Sangeskunst, zum hohen C kraxeln. Jessica stand wie besprochen hinter ihm und streckte ihre Rechte herzhaft zwischen die Bastlbeine. Was sie dort zu fassen bekam, war nicht viel, aber es reichte, um rabiat gedrückt zu werden. Mit Erfolg. Bastl erklomm sofort den Berg und jodelte ein dermaßen hohes C ins Auditorium, dass es gar nicht mehr enden wollte, immer höher wurde, noch höher, lauter auch.
Und genauso war es. Die Pille, welche der unbekannte Mann Bastl in der Garderobe verabreicht hatte, bewirkte, dass, sobald der Pillennehmer ein hohes C sang, die Stimmbänder durchdrehten. Sie kletterten weiter, über den Gipfel hinaus in akustische Gefilde, die Neubauten zum Einstürzen, Kristallleuchter zum Bersten, Blut zum Kochen und Fußballreporter zum Denken bringen konnten.
Die Wände der Halle wankten bedenklich um ein immer panischer werdendes Publikum, das sich die Ohren zuhielt und ungeordnet den Ausgängen zustrebte. Die Kristallleuchter an der Decke zersprangen in Aberzehntausende scharfkantiger Scherben und regneten auf die Flüchtenden. Das Blut in den Adern der unmittelbar Beteiligten Bastl, Willibrord, Yvette und Jessica erreichte Temperatur, Farbe und Geschmack eines wohltuend heißen Glühweins und hatte unweigerlich letale Folgen. Und ein anwesender Fußballreporter dachte tatsächlich, so eine Scheiße habe er selbst bei einem Spiel der deutschen Nationalmannschaft noch nie erlebt. Oder doch wenigstens selten.
Nach einer Minute war der Spuk vorbei. Vier tote, aber erstaunlich warme Menschen lagen auf der Bühne, etwa 800 Zuschauer erlitten mehr oder weniger gravierende Blessuren. Und draußen vor der Halle stand ein Mann und lachte sich ins Fäustchen.
Zitat des Tages
«Aber ich bin doch sehr froh, das Buch (Agatha Christies "And then there were none") gelesen zu haben, weil es endgültig und für immer eine Frage ein meinem Kopf geklärt hat, bei der mich zumindest doch immer noch einige Zweifel bedrängten. Die Frage nämlich, ob es möglich ist, einen strikt ehrlichen Kriminalroman vom klassischen Typus zu schreiben. Es ist nicht möglich.»
(Raymond Chandler)
This day in crime history:
Song des Tages
AC/DC: Jailbreak