Herr Binnensenator Wieland Göth war noch in Gedanken zu Hause, als er schon längst in seinem eleganten Büro saß und die Morgenpost bearbeitete. Es wurmte ihn doch, dass er zum wiederholten Male gegen seine ugandische Putzhilfe Sara beim Schach verloren hatte; zwar erst nach 23 Zügen und aus eigener Unaufmerksamkeit, aber wenn Herr Göth eines nicht ausstehen konnte, war es die Niederlage an und für sich, das Gefühl, versagt zu haben, unter einer übermächtigen und ebenso imaginären wie nebulösen Vaterfigur, die ihm seit Jahren zu schaffen machte.
Er entspannte sich bei kasachischen Volksweisen, deren vertrackte Rhythmik er schon als junger Mann schätzen gelernt hatte, und las sich sehr lustlos durch die vielen Briefe, welche ihn wieder einmal erreicht hatten.
Nein, das ließ er sich nicht nehmen. Das Ohr am Puls der Zeit, an den Mündern der kleinen Leute, die ihn, Göth, zu ihrem Hoffnungsträger erkoren, seien es nun Hausfrauen, Asylbewerber oder fleißige Geschäftsleute, deren Tagwerk anstrengend genug war, um die Göthsche Hochachtung zu spüren zu bekommen. Zwar gab es auch so manchen bösen Brief, doch nahm der Senator dies mit der ihm eigenen hanseatischen Gelassenheit.
Schon als er noch das Richteramt ausübte, waren ihm gewisse Menschen nicht wohlgesonnen gewesen, Menschen, die nicht verstehen konnten, dass man die lebenslange Strafe für einen Massenmörder nicht zur Bewährung aussetzen durfte oder einen Eierdieb zu zwanzig Jahren verurteilen musste, weil auch ein Ei Eigentum ist und Eigentum das höchste Gut in einer demokratischen Gesellschaft.
Las Göth solche Briefe, aus denen Hass und Dummheit gleichermaßen trieften, war ihm nicht selten sehr traurig zu Mute. Er wollte doch nur das Beste für alle! Es machte ihm doch keinen Spaß, Demonstranten verprügeln zu lassen! Aber wenn sie nun einmal bei Rot über die Straße gingen und den Kindern ein schlechtes Vorbild waren! Mein Gott, was sollte er denn tun!
Sorgfältig las Göth Brief um Brief. Joshua, der ghanaische Wirtschaftsflüchtling, den Göth sozialversicherungspflichtig als Butler beschäftigte, brachte das frugale zweite Frühstück und schüttelte den Kopf, als er die Stirn seines Herrn in Sorgenfalten gelegt sah. Massa haben viel Kummer, dachte er, Massa so gut Mensch, machen immer viel gut Werk. Aber viel bös Mensch in Deutschland, link Mensch, kommunistisch Mensch, wo alles kaputt mach. Noch immer kopfschüttelnd verließ Joshua auf leisen Sohlen das Zimmer, um im Nebenraum weiter an seiner Doktorarbeit über das Spalten von nuklearem Material zu arbeiten.
Göth fluchte und konnte seinen Kaffee nicht genießen. Seit Tagen schon häuften sich die bösen Briefe anständiger Bürger, die die schleppenden und wenig professionellen Ermittlungen im Fall Dielen bemängelten. Ob denn die Reichen vor dem Gesetz Menschen zweiter Klasse seien? Wäre Dielen ein armer Mann gewesen, hätte man seinen Fall wohl schon längst aufgeklärt! Kein Wunder, dass bei soviel aus Sozialneid gespeister Ungerechtigkeit der Reiche sein Vermögen ins Ausland schaffte!
Göth nickte bitterlich. So sah es aus im Staate Dänemark. Und der Fall Dielen hatte ihn auch persönlich sehr schmerzlich berührt, war er doch mit dem beliebten Sänger und Dichter in der »Resozialisierungshilfe Hamburg« aktiv gewesen, wo man entlassene Strafgefangene betreute und auf den rechten Weg zurück in die Gesellschaft wies. Der Binnensenator hatte Dielen dort als einen sensiblen, sozial engagierten Mitbürger kennen gelernt, der sich nicht zu schade war, Schwerverbrechern ins Gewissen zu reden und ihnen einen Teller Minestrone gegen den gröbsten Hunger zu reichen. Mit ihm verlor Hamburg einen karitativen Motor, ein Symbol gelebter Nächstenliebe und überbordender Kreativität. Hm, dachte der Senator. Das klingt gut.
Göth bat Ludmilla zu sich, die ukrainische Spätaussiedlerin, welche auf der Reeperbahn in einer Vietnamesengang tätig gewesen war und unverzollte Zigaretten vertickt hatte. Jetzt organisierte sie mit souveräner Hand das Göth'sche Büro und dankte ihrem Chef jeden Morgen auf den Knien für seine Wohltätigkeit.
Sie schwebte auf ihren High Heels in das Büro des Chefs, die Haare züchtig geknotet. Göth sah kurz auf, bat Ludmilla auf einen Stuhl und diktierte ihr die rührenden Sätze zu Dietmar Dielen, welche selbst ein hartgesottenes Wesen wie die Ukrainerin weich kochten. Dann sagte Göth: »Und jetzt, liebe Ludmilla, schaffen Sie mir den Polizeipräsidenten ans Telefon. In Sachen Dielen muss etwas geschehen. Ich mache mich ja zum Gespött der reichen Leute!«
Als der Commissario den Telefonhörer auflegte, starrte er zunächst fünf Minuten auf die öde Platte seines Schreibtisches, raufte sich sodann sieben Sekunden die Haare und dachte zweimal daran, heute Mittag in der Kantine statt Menü 1 Menü 2 zu bestellen.
Gewiß war es ihm schon oft passiert, dass der Polizeipräsident, getrieben von hochstehenden Hintermännern, seine Arbeit kritisierte oder diese in die eine oder andere bestimmte Richtung drehen wollte. Ist Beamtenschicksal so etwas und mit einem Schulterzucken abzutun. Man redet den Herrschaften nach dem Maul, katzbuckelt eine Weile und tut dann doch alles so, wie man es tun will.
Diesmal war es anders gewesen, denn der Polizeipräsident hatte Recht gehabt. Die Ermittlungen im Mordfall Dielen waren zerfahren, plan- und ergebnislos, weder Aktionismus noch Diplomatie konnten die Presse beruhigen, die ihrerseits das Leservolk mit der Botschaft beunruhigte, es werde nichts getan, und wenn etwas getan werde, dann dilettantisch.
Nach dem Verhör der Frau Stefania war Krawuttke für mehrere Tage außerstande gewesen, einen klaren Gedanken zu fassen. Bereits Westwalls Ankündigung, nun aber werde man den Damen Knubbel und Venetia auf den Busch klopfen müssen, und das seien doch noch ganz andere Kaliber als die Witwe, bereits diese Ankündigung also hatte Krawuttkes Puls zur Raserei gebracht. Knurrend hatte er des Assistenten vollmundige Beschreibungen der Knubbel- und Venetia-Körper über sich ergehen lassen, das seien noch 1a - Leiber, wie man sie heute gar nicht mehr herstelle.
Gottlob befanden sich die Damen Knubbel und Venetia irgendwo in der weiten Welt, um Filme zu drehen oder ihre Badeanzüge mit Inhalt spazieren zu führen. So schickte Krawuttke seinen Westwall durch sämtliche Kaufhäuser Hamburgs, denn die Spezialisten hatten herausgefunden, dass Dielen mit dem Gurkenspieß »Odysseus« erstochen worden war, einem Produkt der Firma Stahlhart. Dieses Wunderwerk moderner Küchenkultur bestand aus einer langen, schmalen Klinge mit drei Widerhaken an jeder Seite, so dass man beim Hineinstechen in ein Gurkenglas maximal sechs Stück des sauren Gemüses herausfischen konnte.
Hatte sich Krawuttke nicht vorstellen können, dass ein normaler Mensch den Erwerb eines solchen Spießes ins Auge fassen und realisieren würde, so belehrten ihn die Nachforschungen Westwall eines besseren. »Odysseus« hatte eine neue Sportart aus der Taufe gehoben, das sogenannte »Extremgurkenfischen«. Die Kombattanten sitzen dabei vor handelsüblichen Gewürzgurkengläsern und versuchen, mit einem Hineintauchen des »Odysseus« die optimale Fangausbeute von sechs Krummgurken zu erreichen, das »Sixpack«. Die diesjährigen Weltmeisterschaften, vom Deutschen Sportfernsehen live übertragen, gewann ein Deutscher namens Habermas aus Hamburg, und Westwall hatte den Verdacht, dieser hamburgische Habermas könne etwas mit der Ermordung des Dielen zu tun haben, vielleicht habe er es als eine außerplanmäßige Trainingseinheit genommen oder – na, diese Hochleistungssportler seien eh alle gedopt und nicht mehr ganz fit im Hirnkastel da oben.
Westwalls Intelligenzquotient mochte kleiner sein als seine Schuhgröße, doch eines konnte er: Fleißarbeiten übernehmen. Das war nicht das Problem. Das Problem war, dass Krawuttke von Anfang an befürchtet hatte, man würde eine Sonderkommission einsetzen, um den Fall zu klären. Ein Dutzend durchgeknallter Beamter, die andere Abteilungen freudig entbehren konnten, und die sich als eine wunderbare Mischung aus Inkompetenz, Intrige und Unprofessionalität herausstellen würden. Und genau das hatte ihm der Polizeipräsident, der gerne schwedische Krimis las, wo man stets im Team arbeitete, angedroht.
Krawuttke machte sich fertig, um trübselig nach Hause zu schlurfen. Er würde eine Kleinigkeit essen, Bob Dylan hören und Gin Tonic trinken. Vielleicht auch The Band, »The Night They Drove Old Dixie Down« oder irgend einen anderen Schmonzes. Er würde wieder einmal daran denken, den Dienst zu quittieren und sich ein Haus an der Nordsee zu mieten. Mit Blick aufs Meer. Du hast nur fünfzig Meter bis zum Strand, um ins Wasser zu gehen, wenn du die Untätigkeit nicht mehr aushältst.
Langsam packte Krawuttke seine Aktentasche. Bevor er aufstand, die Schreibtischlampe ausknipste und das Präsidium verließ, dachte er noch einmal mit Schrecken an die bevorstehenden Verhöre der Damen Knubbel und Venetia, von denen er wahre Wunderdinge gehört hatte. Er nahm sich vor, keiner dieser Frauen näher als zwei Meter zu kommen, obwohl ihm schwante, dass selbst diese Distanz ihn nicht davor schützen würde, gegen die Brüste der beiden Damen zu prallen. Er seufzte. In diesem Moment klingelte das Telefon erneut. Krawuttke hörte eine Weile zu und wurde blasser und blasser dabei.
»Was!«, schrie er schließlich in die Muschel, »alle beide tot? Zwei Promis? Im Hotel Hügel? Ja, verreck! Ich komme sofort!«
Zitat des Tages
»Ein Star zu sein ermöglichte es mir, an Orten beleidigt zu werden, wo der durchschnittliche Neger niemals hoffen konnte, beleidigt zu werden.«
(Sammy Davis jr.)
This day in crime history:
1989 starb der französische Regisseur Bernard Blier ("Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh").
Song des Tages
Boomtown Rats: I don't like Mondays
»Tell me why.
I Dont't like Mondays.
I want to shoot.
The whole day down.«