Commissario Krawuttke stand am Fenster seiner Penthousewohnung und schaute aufgewühlt in die glitzernde Hamburger Nacht. Dort unten vergnügten sich arglose Menschen, Menschen wie du und ich, die in ihrem Leben keine Schlagzeile produzieren würden, schon gar nicht eine Schallplatte, ein Buch oder einen Film, Menschen, die zeit ihres Lebens glücklich im Schatten blieben und zu denen im Lichte aufsahen.
Was aber war mit denen, die im Lichte standen? Krawuttke wurde es heiß und kalt, wenn er ihrer gedachte. Sie hockten verängstigt in ihren Villen, nippten lustlos vom teuren Champagner und kamen ihren ehelichen oder außerehelichen Pflichten nicht mehr nach, weil ein einziger furchtbarer Gedanke ihre Sinne beherrschte: Werde ich der oder die Nächste sein?
Beklommen starrte Krawuttke weiter in die Nacht. Dort unten war er. Irgendwo. Ein krankes Hirn in einem gesunden Körper. Ein Mensch, in dessen Vorstellungswelt die diabolische Obsession geboren worden war, die Promis dieses Landes auszulöschen wie unwertes Leben, und der, das musste man zugeben, seine Taten minutiös plante und mit phantasievollen Mitteln umsetzte.
Bei der Ausradierung des literarischen Trios, dieser Speerspitze deutschen Kulturgutes, hatte sich der Irre eines seltenen südamerikanischen Giftes bedient, welches aus dem Sperma brasilianischer Hängebauchschweine gewonnen wird. Es ist völlig geschmacklos, wenn man es in Wein auflöst, und entfaltet seine infernalische Wirkung erst mit Verzögerung, das typische Implodieren einer Fernsehbildröhre, mit der sich die wilden Indianerstämme am Amazonas bereits vor der Erfindung des Glotzkastens telegen ihrer Feinde entledigt hatten.
Krawuttke schüttelte sich. Ein Irrer, ein völlig Bescheuerter, der es verstand, in viele Masken zu schlüpfen. Das Fräulein Fröhlich hatte ihn als jung, blendend aussehend und mit einer gewissen erotischen Ausstrahlung beschrieben, eine Beschreibung, die von der SoKo nur mit resignierendem Kopfschütteln aufgenommen worden war.
«Das trifft auf 80 % aller Deutschen zu!», hatte Stock-Holm schnell errechnet, und Popp erinnerte an Lothar «Linke Klebe» Emmerich, den Schützen des 1:0 gegen Spanien bei der WM 1966, der habe auch ausgesehen wie ein junger Gott und sei möglicherweise später als Weinvertreter durch die Lande getingelt.
Krawuttke hatte dem nur flüchtig zugehört. Etwas rumorte in seinem Hinterkopf, eine vage Idee, aber sie blieb verborgen. Die Befürchtung, der Killer steigere die Effektivität seiner Taten, indem er immer ein Opfer mehr als beim letzten Mal in den Hades ziehe, diese Befürchtung schien sich zu bestätigen. Einer – dann zwei – jetzt drei – morgen vier?
«Der Vierer ohne Steuermann!», rief Wanninger in die Runde.
«Die vier Musketiere!» ergänzte Frau Brandström, die ob dieses verunglückten Scherzes zum sofortigen Kaffeekochen verdonnert wurde.
«Ich tippe auf die vier Luder.», tippte Westwall. «Knubbel, Venetia, Ariadne Faden und Jeannie Butsch.»
Popp stimmte dem zu. «Vier Treffer in einem Match sind selten, und meistens sind schöne Frauen im Spiel.»
Krawuttke, noch immer aus dem Fenster starrend, fühlte sich schrecklich. Auch die Zeitungen tippten auf die Luderfraktion, nicht auszudenken, wenn die Polizei tatenlos zusah, wie .... Nein, nicht dran denken. Er würde die Brandström und Westwall als Leibwache der Damen abstellen, aber... Er ahnte, dass nur Psychologie den Täter würde überführen können, ein kongeniales Gehirn, dem es gelänge, sich in die kranken Windungen der Gedanken des Mörders hineinzuversetzen.
Langsam schlurfte der Commissario zu seinem Schreibtisch. Es war schon nach Mitternacht, an der Zeit, die Sache systematisch und intellektuell zu analysieren. Er nahm ein Stück Papier, einen Stift und überlegte angestrengt.
Nach zehn Minuten schrieb er die Namen der Opfer quer über das Blatt und verband sie mit Pfeilen. Wo waren die Verbindungen? Krawuttke war überzeugt, dass solche existieren mussten. Denken wir mal nach, nahm er sich vor. Allen gemeinsam war der Erfolg. Weniger die Schönheit. Alle lebten für ihre Kunst, sei es der sensible Literat Dielen, die inbrünstige Sangeskünstlerin Michaela oder der idealistische Oberarzt Hans Jakob Rousseau. Und auch die drei vom Trio quatschten mit einer Überzeugung, die nur Menschen haben können, die ihren Beruf lieben.
Vielleicht ist also der Täter ein beruflicher Versager oder unglücklich im Broterwerb? Ein Arbeitsloser? Konnte sein; musste nicht. Weiter, dachte Krawuttke, du bist auf dem richtigen Weg.
Routiniert rekapitulierte der Commissario, was er aus den Akten über die Opfer behalten hatte. Kein Zweifel: Alle hatten ein großes Herz für ihre Mitmenschen und kümmerten sich um die zu kurz Gekommenen. Möglich also, dass der Täter selbst ein zu kurz Gekommener war? Konnte sein; musste nicht.
Unzufrieden betrachtete Krawuttke das Papier. Er stand auf und ging abermals zum Fenster, stierte hinaus in die Lichter. Plötzlich stutzte er. Schlug sich mit der Linken an die Stirn, dass der dahinter verborgene Hohlraum hallte.
Das könnte es sein! Es stimmte zwar, dass die Opfer karitativ tätig und soziale Vorbilder waren – doch wie sah die breite Öffentlichkeit, zu der auch der Täter unbezweifelbar zählte, das Leben der Stars?
Krawuttke ging zurück, setzte sich und nahm ein neues Blatt Papier. Als Erstes schrieb er in Großbuchstaben den Namen DIELEN darauf, unterstrich ihn, malte einen senkrechten Strich darunter, schrieb links von diesem Strich «Wirklichkeit», rechts davon «Fiktion».
Die Wirklichkeit hatte Krawuttke schon rekapituliert: Dielen war ein guter Mensch gewesen, dem sein Wohlstand unangenehm war und der ihn folglich weitergeben wollte an all jene, die nicht wie er vom Glücke begünstigt gewesen waren. Die Fiktion, wie sie in der Presse und dem Fernsehen entwickelt worden war, sah völlig anders aus: Dielen galt als ein untalentierter musikalischer Murkser, ein Schwachkopf mit fickrigen Lenden, dem keine Frau zu alt, kein Bett zu hart war. Man unterstellte ihm groteskerweise ein Gehirn von der Größe einer Walnuss, in dem sich Geldgeilheit und schiere Blödheit paarten und Wörter gebaren, die dem Dielenmund unaufhörlich entsprudelten.
Und die anderen Opfer? Krawuttke schrieb den Namen MICHAELA, machte wieder einen senkrechten Strich darunter, schrieb «Wirklichkeit" und «Fiktion». Wer war Michaela? Jeder beschrieb sie als eine intelligente, starke Frau, die, hätte sie im 19. Jahrhundert gelebt, gewiß als erstes weibliches Wesen Atomphysik studiert, den Nordpol entdeckt oder einem König als Mätresse gedient hätte. Michaela konnte kein Kind weinen sehen und hatte daher immer einige Lutscher in ihrer Tasche, mit denen sie die Tränen der Kleinen wegwischte und leuchtende Augen zurück ließ. Davon wusste indes die Öffentlichkeit wenig. Sie estimierte Michaela als eine mäßig talentierte Schiffssirene, die schon die Beine breit machte, wenn nur ein laues Lüftchen unter ihren Rock kroch.
Es graute der Morgen, als der Commissario von seinen Papieren aufschaute. Jedes der Opfer hatte in zwei Welten gelebt, einer wirklichen und einer künstlichen. Und irgendwo da draußen gab es einen Menschen, der nur das Künstliche sah und es mit aller Gewalt vernichten wollte.
Was war das für ein Mensch? Er agierte selbst wie ein Künstler, bewies Phantasie bei der Wahl der Todesarten und Hilfsmittel. Sah er sich am Ende selbst als ein Künstler, einer der unverstandenen Art? Krawuttke wusste es nicht.
Aber so eindrucksvoll dieses Gedankengebäude auch sein mochte, es blieben doch Zweifel. Oft schon hatte man gehört, jemand begehe eine Reihe von Morden, um EINEN EINZIGEN zu vertuschen. Und wirklich: Als Dietmar Dielen gestorben war, hatte Krawuttke die Witwe zeitweilig unter Verdacht gehabt. Nun jedoch, da man einen Irren hinter den Verbrechen glaubte, kümmerte man sich nicht mehr um mögliche Motive nahestehender Personen. Wie war es zum Beispiel mit Michaela? Hatte es da nicht einen Talkshowmoderator gegeben, der sie eine Rakete im Bett genannt hatte, aber kurz darauf selbst wie eine solche Rakete aus ihrem Bett geflogen war? Oder diesen Fußballtorhüter, der angeblich... Man sagte von ihm, er würge gelegentlich auch harmlose gegnerische Stürmer. Kein großer Schritt mehr zum Massenmord. Nein, man durfte das Offensichtliche nicht vernachlässigen.
Es war Zeit, zur Arbeit zu gehen. In Krawuttkes Kopf hatte sich die Theorie von den zwei Existenzen der Stars festgesetzt, und eine geradezu wahnsinnig anmutende Idee war hinzu gekommen. Was, wenn nun tatsächlich die sogenannten «vier Luder» ins Visier des Mörders geraten waren? Es gab keinen Beweis dafür, doch eine innere Stimme sagte Krawuttke, so sei es. Könnte man nicht...
Lustig vor sich hin pfeifend verließ Krawuttke seine Wohnung. Er hatte eine Idee...
Zitat des Tages
»Ein Star zu sein ermöglichte es mir, an Orten beleidigt zu werden, wo der durchschnittliche Neger niemals hoffen konnte, beleidigt zu werden.«
(Sammy Davis jr.)
This day in crime history:
1989 starb der französische Regisseur Bernard Blier ("Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh").
Song des Tages
Boomtown Rats: I don't like Mondays
»Tell me why.
I Dont't like Mondays.
I want to shoot.
The whole day down.«