Frau Stefania Dielen war an diesem Morgen alleine in ihrem Bett erwacht. Sinnierend und schlaftrunken betrachtete sie den leeren Platz neben sich, das unberührte weiße Laken und das sorgfältig drapierte Kopfkissen, auf dem in dieser Nacht kein Dielenkopf seinen Abdruck hinterlassen hatte.
Stefania dachte an Dietmar. Wahrscheinlich saß er noch immer in seinem Arbeitszimmer und starrte auf den Monitor. Stefania lächelte. Den Johann Sebastian Bach der Popmusik nannte man ihren Dietmar, und die meisten Menschen wären damit zufrieden gewesen. Aber nicht ER. Seit er seine Memoiren geschrieben hatte, »Nicht Salz, die Wahrheit«, dürstete es ihn auch nach der Dichterkrone, obwohl man die nicht trinken konnte, und eines Tages, das wusste Dietmar, würde man ihn auch den Johann Sebastian Goethe der gegenwärtigen Hoch- und Schwerliteratur nennen.
Schon früh hatte Stefania gewußt, dass Dietmar Dielen mehr war als nur ein erfolgreicher Popstar. Da war sie noch ein Kind. Langsam wuchsen ihr Brüste und lange Beine, das sicherste Kapital einer am Schulsystem verzagenden jungen Frau. Aber wollte Stefania »nur einen Mann« abkriegen? Nichts weniger! Es war immer nur Dietmar, den sie zu erobern trachtete, Dietmar, den Star, Dietmar, den Poeten, dessen unsterbliche Zeilen »You're in my heart and so am I« oder »Ah,ah,ah,ah, äh, iy, ey« Stefania in ihrem Jungmädchenzimmer vor sich hin summte, wenn sie wieder einmal ihren Brustumfang maß. Und eines Tages hatte es dann geklappt. Gut, Dietmar Dielen war ein alter Mann, dessen Falten tiefer zu sein schienen als der Grand Canyon. Aber schon in den ersten Tagen ihres Beisammenseins hatte es Stefania schätzen gelernt, dass Dietmar stets das Licht ausmachte, wenn sie sich zum Liebemachen auf das französische Bett zurückzogen.
Jetzt machte Stefania Kaffee. Dietmar würde ihn gebrauchen können. Sie blickte aus dem Küchenfenster in die geräumige und aufgeräumte Parklandschaft, welche ihre Villa vor den Toren Hamburgs wie ein Schutzgürtel umgab. Jenseits der Mauern lauerte die böse Welt. Eine Welt, die nur so wimmelte von vollbrüstigen Frauen, die sich ihrem Dietmar auf Tischen, Fußböden oder speckschwartigen Ledersofas hingeben wollten. Frauen, die Venetia hießen oder gar Knubbel und mit ihren Abenteuern durch die Talkshows zogen. Ganz zu schweigen von Bin Laden und den Arbeitslosen, die es ihrem Dietmar kaum vergönnten, dass er sich zwei Steaks täglich leisten konnte und ihn einen Schmarotzer, Ausbeuter und Macho schimpften.
Aber Stefania wusste es besser. Ihr Dietmar war kein Macho. Er war ein feinfühliger, liebevoll um das Wohl seiner kleinen Familie besorgter Mann, der hart arbeitete, um das Nötigste zu beschaffen. Und dumm war er schon gar nicht. Er hatte Abitur und ein BWL-Studium. Sein liebstes Hobby war die französische Buchführung, eine Kunst, die nur wenige beherrschen und gewiss niemand so souverän wie Dietmar.
Der Kaffee war fertig. Dietmar würde sich freuen, wenn sie ihm gleich eine Tasse kredenzte. Er würde mit müden Augen lächeln und voller Stolz auf den Monitor weisen, wo unsterbliche Prosa geboren worden war in dieser tiefschwarzen Nacht. Sätze wie vielleicht »Tom Muxenschrader kann sich ins Knie ficken.« oder »Knubbel dachte beim Bumsen immer nur an einen Eierkocher.« Sätze, eines Böll würdig oder wie immer der auch hieß, dessen Bücher in der Buchhandlung vor dem Werk Dietmar Dielens im Regal standen. Stefania lächelte abermals und füllte eine große Tasse mit der heißen Flüssigkeit. »Unser Lautester« stand auf der Tasse, und das zeigte doch wohl, wie viel Sinn für Humor Dietmar besaß. Denn der Lauteste war er doch nur, weil die anderen so leise waren.
Stefania öffnete vorsichtig die Tür zu Dietmar Dielens Arbeitszimmer. Es war stockdunkel und Stefania darob überrascht. Sie nahm die Tasse in die andere Hand und tastete nach dem Lichtschalter. Schlagartig wurde es hell...
Nein. Commissario Krawuttke hatte schon viel gesehen, aber selbst ihm verschlug der Anblick, der sich ihm soeben bot, die Sprache. Er seufzte. Um ihn herum wimmelte es von Polizisten, Ärzten und sonstigem Personal, das gebraucht wird, wenn man einen Mord bearbeiten muss. Und das hier war ein Mord, soviel stand fest.
Der Mann, der einmal Dietmar Dielen gewesen war, lag vor einem eleganten Computertisch. Fast hätte man meinen können, er läge auf einem roten Teppich, doch genaueres Hinsehen entlarvte diesen als eine glitzernde, klebrige Blutlache, die aus der Pyjamajacke geflossen zu sein schien.
Eine Pyjamahose trug der Tote nicht. Auch sonst fehlte ihm einiges. Manche nennen es die Geschlechtsteile. Andere, die keine höhere Schulbildung ihr eigen nennen können, sagen Eier und Schwanz dazu. Wortgewaltige wählen »Gemächt« und Frivole sehen in diesem Ensemble zur Triebabfuhr gar »die Glocken und den Klöppel«, womit nicht der gleichnamige Nachrichtensprecher früherer Zeiten von RTL gemeint ist, obwohl auch dieser wahrscheinlich über Glocken und Klöppel verfügte und Phantasiebegabte an einen erigierten Penis gemahnte.
»Hm«, murmelte Krawuttke, »dem haben sie aber das ganze Bimbam abgeschnitten«, womit wir eine weitere Umschreibung hätten. Wo aber befand sich das Gemächt, wenn nicht mehr an seinem legitimen Besitzer? Krawuttke sah sich nach seinem Assistenten Westwall um und erspähte ihn endlich halb unter dem Computertisch bei der Spurensicherung. Westwall, der auf den Vornamen Gideon hörte und seit Jahren das Gespött seiner Umwelt war, weil ein anderer ähnlichen Namens vor vielen Jahrzehnten von einem politischen Fettnäpfchen ins andere getreten war, Westwall also trug eine verwaschene Jeans, aus der gerade ein halber Hintern quoll.
»Westwall!«, bellte Krawuttke in Richtung der entblößten Backen. Er mochte ihn nicht, diesen Vertreter einer jungen und dynamischen Generation von Kriminalisten, die ihm, dem Mittfünfziger, dem Träger von Schweißfüßen und dritten Zähnen, keinen Respekt mehr entgegenbringen wollten.
Als er, Krawuttke, jung gewesen war, da gehörte es zum guten Ton, einem Verdächtigen beim Verhör wie zufällig den Ellenbogen ins Gesicht zu rammen oder ihn mittels Nahrungsentzuges zum Geständnis zu bewegen. Dann aber setzten sich die Ideale der 68er Generation durch, die Aufklärungsquote sank dramatisch und Verbrecher wurden mit »Herr« angeredet.
»Westwall!«, bellte Krawuttke ein zweites Mal. »Kommen Sie mal herr!« Der so Angebellte erschien schließlich und machte seinen Chef mit den wichtigsten Fakten des neuen Falles vertraut. »Das ist ein Prominentenmord!«, triumphierte der Assistent und führte, da Krawuttke verständnislos glotzte, aus: »Aber das ist doch Dietmar Dielen! DER Dietmar Dielen! Der Johann Sebastian Bach der Popmusik, der Stecher aller Frauen und König der TEXT-Zeitung!«
Krawuttke seufzte. So etwas hatte ihm gerade noch gefehlt. Ein Promi! Jede Menge geifernder Journalisten. Und Recherchen in der sogenannten »Schickeria«!
»Wie und wann ist das hier eigentlich passiert?«, wollte er wissen. Westwall zückte seinen Notizblock. »Nach erster Diagnose des Arztes wurde das Verbrechen zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh begangen. Als Todesursache kann ein Stich ins Herz angenommen werden, welcher mit einem stilettartigen Gegenstand getätigt wurde. Daher auch das Blut am Pyjamaoberteil. Das Absägen des Geschwurbels (aha, wieder eine neue Umschreibung!) erfolgte post mortem.«
Krawuttke lachte. »Das Absägen? Sie belieben wohl zu scherzen!« »Keineswegs, Chef.«, konterte Westwall. »Der Arzt tippt auf einen gezackten Gegenstand, welcher manuell zum Abtrennen der Genitalien (ha! Noch eine Umschreibung!) benutzt wurde.«
»Wie sehr muss der Mörder sein Opfer gehasst haben!«, philosophierte der Commissario. »Das ist gar nicht vorstellbar!«
»Wenn Sie schon mal ein Stück von Dielen gehört hätten, könnten Sie sich das durchaus gut vorstellen.«, bemerkte Westwall und grinste. Er selbst hielt Hartmut Lotti für die Reinkarnation Elvis Presleys und pflegte einen fatalen Hang zum sogenannten Classic Rock der Siebziger Jahre, dem er in sogenannten »Retrokneipen» frönte. Dorthin begab er sich in modischer Hippiegewandung und hörte mit Gleichgesinnten Deep Purple, Emerson Lake & Palmer sowie Yes, bevor er eine als Blumenmädchen verkleidete Frührentnerin abschleppte (auch das Jargon der Siebziger!) und mit ihr gummilosen Geschlechtsverkehr ausübte.
»Der Mann hat sich zudem mit allem angelegt, was ihm vor die Flinte gekommen ist. Das wird kein leichter Fall, bei meiner Treu!«, sinnierte Westwall noch, aber die Aufmerksamkeit des Commissario war bereits vom noch immer flimmernden Monitor des Dielenschen Notebooks in Anspruch genommen worden. Krawuttke stieg vorsichtig über die Leiche und las den einzigen Satz, welcher auf dem Bildschirm geschrieben stand: »Tom Muxenschrader kann sich ins Knie ficken.«
»Notieren Sie mal diesen Muxenschrader als Tatverdächtigen«, wies Krawuttke seinen Assistenten an und fragte: »Was macht die Witwe? Schock?«
Westwall nickte. »Schwerer Schock. Sie ist vor morgen früh nicht ansprechbar.«
»Hat ihr der Arzt eine Beruhigungsspritze gegeben?«
»Das war nicht nötig. Ihr Rechtsanwalt ist gekommen und liest ihr gerade vor, was sie alles erben wird. Das scheint sie kolossal zu beruhigen.«
Es waren solche Szenarien, die Krawuttkes Welthass befeuerten. Er hielt die gesamte Menschheit mit zwei Ausnahmen für geldgeil und moralfrei, für verkommen und dem Fegefeuer geweiht, so dass am Ende aller Tage, wenn der Herrgott zum Jüngsten Gericht bitten würde, ganze zwei Personen sich den weiten Himmel teilten: er, Krawuttke, und seine langjährige Geliebte, die Exdomina und jetzt Gelegenheitsprostituierte Sandra de Castello, bei der der Commissario einmal die Woche einkehrte.
»Na klar.«, schloss er seine finsteren Überlegungen ab. »Wir müssen herausfinden, wer alles von Dielens Ableben profitiert. Und da dürfen wir die Witwe nicht vergessen!«
Dann seufzte er ein letztes Mal und verließ den Tatort. Er durchquerte den Park und das gusseiserne Eingangstor und geriet in ein Gewitter blitzender Fotoapparate und aufgeregter Stimmen.
Zitat des Tages
«Aber ich bin doch sehr froh, das Buch (Agatha Christies "And then there were none") gelesen zu haben, weil es endgültig und für immer eine Frage ein meinem Kopf geklärt hat, bei der mich zumindest doch immer noch einige Zweifel bedrängten. Die Frage nämlich, ob es möglich ist, einen strikt ehrlichen Kriminalroman vom klassischen Typus zu schreiben. Es ist nicht möglich.»
(Raymond Chandler)
This day in crime history:
Song des Tages
AC/DC: Jailbreak