Gideon Westwall war nie ein guter Autofahrer gewesen. Er selbst sah das natürlich anders. Schon in der Fahrschule hatte ihm gedämmert, dass der gemeine Fußgänger natürlicher Feind des Motorisierten sein musste. Was suchte zum Beispiel ein Kind in der verkehrsberuhigten Zone, wenn doch bekannt war, dass einer wie Westwall grundsätzlich mit Tempo 120 durchbretterte? Hatten da nicht die Eltern ihre Aufsichtspflicht verletzt? Bestimmt war es so.
Im Moment waren es weniger die Fußgänger, denen Westwalls Flüche galten. Vielmehr verdammte er den Umstand, nicht Herr über das LUDERMOBIL zu sein. Dieses raste, wie von Geisterhand bewegt, immer weiter auf menschenleeres Gebiet, schnurstracks zum Schlachthof, dessen düstere Front bereits in der Windschutzscheibe sichtbar geworden war und Westwalls Rücken zu einer Rutschbahn für Eiswürfel machte.
Hinten, in der geräumigen Wohneinheit des Fahrzeugs, ahnte man noch nichts von der drohenden Gefahr. Soeben dozierte Knubbel, die einen Universitätsabschluss in Dozieren hatte, über das Für und Wider einer komplett revidierten Schopenhauer-Exegese, will sagen: War Schopenhauer tatsächlich der Weiberfeind gewesen, als den ihn seine Schriften auswiesen, oder hatte er einfach nur die Frauen nicht leiden mögen und warum? Venetia Klavinsky, das hübsche Kinn auf dem Handteller abstützend, warf ein, man müsse eine vergleichende Analyse der Arbeiten Schopenhauers und Nietzsches durchführen, um dem Problem auf den Grund gehen zu können. Dem stimmte auch Ariadne Faden zu, gab jedoch zu bedenken, dann sei Hegel nicht fern und müsse ebenfalls völlig neu interpretiert werden.
Jeannie Butsch hörte staunend zu, nickte bisweilen mit dem Kopf und kämpfte ansonsten mit jener großen Müdigkeit, die sie immer überfällt, wenn ihre Kleidung das Gesamtgewicht von 20 Gramm überschreitet. Sie kannte wohl diesen Schopenhauer von einer Party her; doch Nietzsche, gar Hegel waren ihr dort noch nicht begegnet. Jedenfalls nicht dass sie gewusst hätte. Oder doch? Der kleine Süße, der «in Armbanduhren machte», damals auf der House-warming-Party von Max Frisch, dem berühmten Autor von «100 legale Abtreibungstricks» und «Biedermann und die Brandstifter», einer Biografie der bekannten Sängerin Jeanette Biedermann? Sollte das etwa Nietzsche gewesen sein? Und was, verdammt noch mal, hatten Armbanduhren mit Philosophie zu tun? Und was war überhaupt diese «Philosophie», von der die anderen so hingebungsvoll erzählten?
Auf diese Fragen hätte auch Westwall keine Antwort geben können. Hilflos war er dem Moloch LUDERMOBIL ausgeliefert, einem Sklaven des technischen Zeitalters, der sich selbstständig gemacht zu haben schien. Natürlich glaubte Westwall nicht im Ernst, das Auto habe quasi eine Seele und einen Verstand entwickelt, der ihm sagte, die vier Luder samt Westwall müssten in eine Schlachterei verbracht und dort zu leckeren Wurstwaren des täglichen Bedarfs verarbeitet werden.
Aber genau das war der Punkt. Westwall bekam einen Schreikrampf. Es konnte nur eine Erklärung dafür geben, dass das LUDERMOBIL jenem Ort entgegenfuhr, an dem man aus Schweinen und Rindern geometrische Leichenteile formte. Eine geheime und unvorstellbar grausame Macht hatte den Insassen des Fahrzeugs genau dieses Schicksal aufgezwungen, und Westwall hoffte, man würde ihn wenigstens vor die Wahl stellen, ob er als Mortadella, Pizzafleischkäse oder Kasseler Rippenspeer würde enden wollen. Er würde sich für Pizzafleischkäse entscheiden und sich nur verbitten, in gebratenem Zustand konsumiert zu werden.
Endlich erreichte man das Haupttor des Schlachthofes, welches, wie kaum anders zu erwarten, offen stand. Das LUDERMOBIL sauste elegant hindurch, nahm, nicht weniger elegant, eine leichte Linkskurve und hielt auf das gigantische Kühlhaus zu, dessen Eingangstür ebenfalls geöffnet war und zudem groß genug, ein Fahrzeug von den Ausmaßen des LUDERMOBILS ohne Schwierigkeiten ins Innere der Halle rasen zu lassen. Fast versteht es sich von selbst, dass auch das Tor zur geräumigen Kühlkammer des Gebäudes dem Wagen keinen Widerstand entgegensetzte, und so befand sich das LUDERMOBIL recht bald an einer Örtlichkeit, gegen die Sibirien wie Mallorca anmutete, und deren Tür sich hinter dem eingefahrenen Wagen automatisch verschloss und verriegelte. Das LUDERMOBIL steuerte zwischen die aufgehängten Schweine- und Kälberhälften, bremste ab und hielt an. Für ein paar Sekunden war alles still.
Trotz ihrer lebhaften Diskussionen registrierten die vier Luder sofort, dass sie am Ziel angekommen sein mussten und stiegen aus. Sie trafen auf einen schon recht unterkühlten Westwall, der ihnen die Situation erklärte und einen nicht geringen psychischen Tumult bei den Damen erzeugte.
«Das Gute ist ja, dass Sie, meine Damen, alle wohlverpackt sind und eine gewisse Minustemperatur schon aushalten können», tröstete Westwall und fügte hinzu: «Wenn auch nur für einen verdammt kurzen Zeitraum.»
Aus den Mündern der Damen entfuhren neben Satzfragmenten der Panik erste Wolken kondensierender Atemluft. Tatsächlich trugen sie alle Anoraks, Pullover und reine Angora-Unterwäsche. Jeannie Butsch hatte sogar, als Basisbedeckung ihrer Haut, ein sehr dünnes, enges und aus wenig Stoff genähtes Kleidchen angezogen, welches sie am Ende der geplanten Sendung hatte vorzeigen wollen.
«Wir werden alle jämmerlich erfrieren!» schrie sie nun.
«Mag sein», bestätigte Westwall, «aber ich hab schon gedacht, man wolle uns hier zu Wurst verarbeiten. Das wäre der entschieden unangenehmere Tod.»
Ariadne Faden schüttelte den Kopf. «Erfrieren ist noch schlimmer», keuchte sie und schlug dabei mit ihren Händen gegen die Brust, welche darob das furchtbare Geräusch eines mit Luft gefüllten Kissens wiedergab, auf das sich ein übergewichtiges Gesäß hockt.
Knubbel, ganz praktisch, rannte zur Tür, um diese zu öffnen. Sie war verschlossen. Venetia, noch praktischer, suchte eine alternative Möglichkeit, der Kältekammer zu entkommen. Es fand sich keine. Ariadne, am praktischsten, hielt nach einer Apparatur Ausschau, die es erlaubte, die Temperatur hoch zu stellen. Ergebnislos. Jeannie Butsch, die Göttin der Praxis, kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy, um Hilfe zu holen. Das Handy funktionierte nicht. Westwall, der Theoretiker, setzte sich auf den eiskalten Boden und begann bitterlich zu weinen.
«Elend werden wir zugrunde gehen!», schniefte er und nahm gerne das von Knubbel gereichte Taschentuch mit den Initialen D.D. an. Knubbel trug es als die letzte verbliebene Erinnerung an ihren langjährigen Lebensgefährten immer bei sich, nahm es gelegentlich zur Hand und betrachtete versonnen und traurig den eingetrockneten quittengelben Popel. Wenn doch Dietmar hier wäre! Ihr Dietmar! Er würde wenigstens auch erfrieren.
So vergingen fünf Minuten. So vergingen zehn Minuten. Es war keine Frage, dass Krawuttkes Strategie, die Luder in feste und warme Kleidung zu stecken, erfolgreich gewesen war, denn in ihrer üblichen Damenoberbekleidung wären die Vier schon nach wenigen Minuten erfroren. Das war wirklich eine Genugtuung für Westwall, der stolz darauf war, unter einem solch vorausschauenden, hochintelligenten Chef gedient zu haben. Trotzdem konnte er sich des vagen Eindrucks nicht erwehren, dass der Gesamtplan irgendwie schiefgegangen war. Beim nächsten Mal würde man alles anders machen.
So vergingen fünfzehn Minuten, zwanzig Minuten. Stoisch hing das Fleisch der geschlachteten Tiere an seinen Haken und fror vor sich hin. Stoisch auch gingen die fünf Gefangenen auf und ab, verkrochen sich in ihre Bekleidung und zogen fünf überwiegend positive Lebensbilanzen. Die vier Luder hatten alles erreicht, was Personen ihres Zuschnitts an Glück im Leben offensteht: Männer, Kohle, Publicity. Sie waren in der Lage gewesen, über Schopenhauer zu parlieren, was nicht jeder (z.B. Westwall) von sich behaupten konnte. Sie besaßen schöne, vollendete Körper, welche selbst im tiefgefrorenen Zustand nichts von ihrem proportionalen Ebenmaß einbüßen würden. Jede von den Vieren war für eine mindestens sechs Zentimeter hohe Schlagzeile in der TEXT-Zeitung gut. Man würde ihre Kleidchen auf Wohltätigkeitsbasaren der High Society versteigern und die Einnahmen der Welthungerhilfe, der AIDS-Hilfe und der Not leidenden Musikindustrie spenden. Soweit war alles in Ordnung. Wenn nur die Kälte nicht gewesen wäre.
Westwalls Lebensbilanz war ernüchternder. Er würde es niemals zum Gurkenfischer des Jahres bringen, und auch das Häuschen in der Toskana, welches er für seinen Lebensabend schon fest anvisiert hatte, musste wohl Illusion bleiben. Was stand auf der Habenseite? Er hatte fast den gleichen Namen wie ein ehemals bekannter Politiker gehabt; immerhin. Er war verbeamtet; dumm nur, dass diese Verbeamtung «auf Lebenszeit» ausgesprochen worden war und ihr Ende somit abzusehen. Er besaß einen leidlich funktionstüchtigen Kleinwagen, eine Einbauküche mit Spülmaschine und - äh - Gefrierschrank, ein mit 3000 Euro überzogenes Girokonto sowie, und darauf war er besonders stolz, eine astreine, klinisch saubere Personalakte. Dass er damals das Kind in der verkehrsberuhigten Zone überfahren hatte, war schon längst vergessen. Es sollte den Eltern eine Lehre sein!
Plötzlich näherten sich Schritte. Sehr langsame Schritte. Jeannie Butsch blieb abrupt stehen, lauschte einen Augenblick und schrie grell: «Das ist er! Der Metzger! Der Schlächter! Der Promikiller! Ich will nicht zu Wurst werden! Ich bin Vegetarierin! Ich habe Menschenrechte!»
Eine erstaunliche Rede für Jeannie Butsch. Eine Rede, in der kein einziges Mal das Wort «geil» vorgekommen war. Chapeau!
Die Schritte kamen immer näher. Dann verstummten sie. Jemand machte sich an der Tür zu schaffen.
«Tun Sie doch etwas! Ziehen Sie Ihre Pistole!», herrschte Venetia Klavinsky den perplexen Westwall an, der gerade daran dachte, etwas zu tun und seine Pistole zu ziehen, dann aber auch daran dachte, dass er als Beamter fürs Nichtstun bezahlt wurde und überhaupt keine Pistole dabeihatte.
«Hilfe!», schrie nun der komplette Luderchor und fiel auf die (insgesamt acht) Knie. «Hilfe! Wir sind doch unschuldig!»
Westwall musste, der nicht ganz unschwierigen Situation zum Trotz, lachen. Die und unschuldig! Dann wurde er sich aber des Ernstes der Lage bewußt und schämte sich für seinen Heiterkeitsausbruch.
Wer immer an der Tür hantierte - er hatte seine liebe Not damit. Endlich war es geschafft, und die Tür wurde vorsichtig geöffnet. Den Fünfen in ihrem Gefrierabteil stockte der Atem. Gleich würde ein schwarzgewandeter Arm in den Raum gestreckt werden, mit einer ungewaschenen, haarigen Hand daran, in der die schneidige Klinge eines putzigen Schlachterbeilchens blinkte. Gleich würde man von Angesicht zu Angesicht dem meistgesuchten Verbrecher Westeuropas gegenüberstehen. Gleich gäbe es kein Entrinnen mehr, wären die Stunden gezählt. Das Schlachterbeilchen würde, von harter Hand geführt, unbarmherzig in das Fleisch der Opfer eindringen, Blut würde spritzen, Köpfe abgehackt, Gliedmaßen ebenso. Gleich würde man erleben, was die armen Schweine und Kälber, die hier herumhingen, schon hinter sich hatten.
Dann streckte sich ein schwarzgewandeter Arm in den Raum. An ihm hing eine ungewaschene, haarige Hand. In dieser ruhte - ein Polizeiausweis. Dem Arm, der Hand und dem Polizeiausweis folgte ein Westwall wohl bekanntes, aber noch niemals so gerne gesehenes Gesicht.
«Polizei!», schrie Kommissar Krawuttke - denn um keinen anderen handelte es sich - in den Raum. «Ergeben Sie sich - oder wir werden Ihnen einheizen!»
Zitat des Tages
«Taschendiebstahl ist das am leichtesten zu beherrschende kriminelle Handwerk. Jeder, der kein Krüppel ist, kann es in einem Tag zum Meister bringen.»
(Dashiell Hammett: Aus den Memoiren eines Privatdetektivs)
This day in crime history:
Song des Tages
Cypress Hill: How I Could Just Kill a Man