Jim Morrison sang. Seine depressive Stimme wurde aus einem runden Stück zerkratzten Vinyls geritzt, das sich monoton drehte. «This is the end, my only friend the end ». Und Krawuttke hockte vor dem Plattenspieler und nickte nur. Das war, no doubt, das Ende, sein einziger Freund, die Ameise.
Dass es draußen in Strömen regnete und eine schwarze Nacht noch schwärzer machte, passte zu Krawuttkes Stimmung. Nicht sein Tag heute. Sie hatten geglaubt, eine prima Idee zu haben, als sie sich – die ganze verfluchte Sonderkommission – ins Stadion begeben hatten, um den Mörder beim Länderspiel zu überführen. Es hatte dort von Viererbanden nur so gewimmelt! Doch was war geschehen? Deutschland hatte gegen Andorra 0 : 27 verloren und noch Glück dabei gehabt. Was im Übrigen auch der Teamchef bei der anschließenden Pressekonfererenz gemeint hatte, als er lächelnd bemerkte, 0 : 27 sei besser als 0 : 26, denn 26 geteilt durch 2 ergebe 13, was bekanntermaßen eine Unglückszahl sei. Der Torhüter, der neben dem Teamchef am Tisch saß, hatte darob nur mühsam in seiner Zwangsjacke genickt und eine Ladung weißen Schaums in Richtung der Pressevertreter gespuckt.
Sie hatten das Stadion gerade verlassen, als die Nachricht von den Vorfällen bei der Fernsehsendung «Deutschland pfeift auf den Superstar» über Funk gemeldet wurde. Natürlich hatten sie sich sogleich an den Tatort begeben, um, wie fast immer, nichts weiter tun zu können als Spuren zu sichern und Zeugen zu verhören.
Aber auch dieser ehrbaren Tätigkeit konnte das Team nicht lange nachgehen. Der Polizeipräsident traf ein, hochroten Kopfes, und beurlaubte die Sonderkommission vor laufenden Kameras und den Vertretern der Weltpresse. Sie wurden genötigt, ihre Dienstausweise und -waffen abzugeben, man riss ihnen die Lederflicken – offizielles Kennzeichen der Polizei – von den Strickjackenärmeln und gab einem jeden der so Ausgestoßenen noch einen speziellen Fluch mit auf den langen, dornigen Weg nach Hause. Dort hatte sich Krawuttke auf der Stelle entkleidet und ein Vollbad genommen. Danach hatte er sich angezogen und unter die Dusche gestellt. Und zum Schluss abermals bis auf die Unterhose ausgezogen und die Zähne geputzt. Mit der freien Hand elektrisch rasiert.
Krawuttkes Gedanken schweiften zurück an den Beginn seiner Laufbahn. Damals, er war noch ein kleiner Bereitschaftspolizist, als sie als «Jubelperser» verkleidet (dicker Schnurrbart) mit langen Stöcken auf das studentische Pack einschlugen, das gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs demonstrierte. 1967. Und hatte er nicht Rudi Dutschke persönlich mit seiner Stange an der Rübe erwischt?
Oder die Antiraketendemos in den 80ern! Er leitete das Kommando «BBB», eine Ansammlung besonders brutaler Bullen, und ihre Lieblingsbeschäftigung war es, kleine Schulmädchen, die vor Amikasernen sitzstreikten, wegzutragen. Eine Hand im Schritt, die andere an der Brust des Opfers. Das ersparte einem die abendlichen Bordellbesuche oder ehelichen Pflichtübungen.
Und dann die spektakulären Mordfälle! Wer erinnert sich noch an den Fall Schluckebier? Dieser, ein unzufriedener Ehemann und Terrarienfreund, hatte seinem grünen Leguan derart in den Schwanz gebissen, dass dieser (der Leguan, nicht der Schwanz) seinerseits die ebenfalls anwesende Ehefrau des Schluckebier in den Hals gebissen hatte. Eine schwer zu beweisende Tat, nur geklärt, weil Krawuttke den Leguan nach allen Regeln der Kunst verhört hatte.
Passati, wie der Engländer sagt. Vorbei. Man würde ihn degradieren und auf irgendeinen Schreibtischjob abschieben. Es tröstete ihn, dabei nicht in der schlechtesten Gesellschaft zu sein, denn in diesem furchtbaren Land hatte schon längst die schiere Dummheit das Zepter übernommen und war die Intelligenz im Schatten einer trüben Existenz nicht weiter mehr als ein verwelkendes Pflänzchen. Kein Wunder, dass diese Arschlöcher das Drei-Prozent-Kriterium der EU nicht einhalten konnten!
Endlich hatte Jim Morrison seinen Vater getötet und seine Mutter geschwängert, die Nadel des Plattenspielers war in eine Endlosschleife in der Leerrille geraten. Seufzend erhob sich der Commissario und schaltete den Fernseher an, zappte sich durch.
«Deutschland sucht das gefährdetste Fünferteam!» schallte es ihm entgegen. Krawuttke wurde es heiß und kalt. Er schaltete auf laut:
«Schon lange nicht mehr im Fernsehen gewesen? Mal berühmt, aber heute vergessen! Hier kommt eure Chance! Deutschland sucht das gefährdetste Fünferteam! Meldet euch zur neuen großen Casting - Show! Dem Gewinner winkt ein epochales Live-Abserviertwerden! Bedingung: Mäßige Berühmtheit, mindestens fünf Personen. Ein Gewinnanspruch besteht nicht.»
Laut fluchend schaltete der Commissario den Fernseher aus. Das würden die ja sehen! Er, der Einzige, der in Lage war, den Fall zu lösen, abgesägt! Aber er würde weitermachen! Nicht ruhen, bis der Mörder gefasst wäre!
Nach dieser Eruption der Gefühle sank Krawuttke erschöpft in die trügerische Weichheit des Sessels. Wäre er ein Leser von Kriminalromanen, er würde dieses langweilige Kapitel, in dem ein Kommissar seinem Selbstmitleid nachhängt, verfluchen. Wenn er es wenigstens mit etwas Eros beschließen könnte! Doch Sandra, seine Geliebte, verrichtete wie immer zu dieser Abendstunde ihr Tagwerk auf dem Autostrich und würde wohl – so sind sie nun mal, die Weiber – eh nichts mehr von ihm wissen wollen, von ihm, dem Loser und Gebrandmarkten. In diesem Moment klingelte es Sturm an der Haustür.
Frau Stefania Dielen hatte geweint. Ihr dezentes Makeup floss gemächlich wie der Mississippi über die von Angst und Panik zerfurchte Perfektion ihrer Wangen.
«Sie müssen mir helfen», hauchte sie.
Erst jetzt wurde Krawuttke klar, wer vor ihm stand. Keine Fata Morgana. Kein Trugbild, das ihm seine Depression vorgaukelte. Sondern Stefania Dielen. Sie trug ein Cape aus weißen Polarfuchspelzen, darunter die Winzigkeit eines mit silberglitzernden Metallplättchen besetzten Kleidchens.
«Wollen Sie mich nicht hineinlassen?» fragte Stefania schüchtern und versuchte ein Lächeln. Es misslang; doch Krawuttke war es, als habe ihm die Mona Lisa einen dreckigen Witz erzählt. Er war erschüttert. Trat bebend zur Seite, Stefania schlüpfte an ihm vorbei in die Wohnung und streifte dabei alles, was an Krawuttkes Körper Erhebung war. Und das war eine ganze Menge.
Er errötete und bemerkte zu seinem Erstaunen, dass dieses Erröten langsam seinen Körper hinabwanderte, so dass er in dieser Sekunde wohl das einzige jemals existiert habende Wesen war, dessen Scham sich in roten Füßen offenbarte. Unvermittelt sah sich Krawuttke in einen besonders schmierigen, hormontriefenden Roman hineingeschleudert, dessen Autor – wohl auf Drängen des geldgeilen Herausgebers – kein noch so triviales Mittel scheute, sein äußerst primitives Lesepublikum an sich zu binden. Nach dieser perfiden Logik würde Stefania Dielen zielstrebig das geblümte und ausgebeulte Sofa des Hausherrn ansteuern, sich auf ihrem Weg dahin des Capes entledigen und dem geifernden Krawuttke eine Hinteransicht bieten, die dieser mit der ungezähmten Gier eines sexuell Verdurstenden aufnehmen würde.
Und so war es auch. Stefania setzte sich auf dem Sofa in Pose, schlug das rechte Bein über das linke und offenbarte, dass die Schwärze ihres Kopfhaares entweder der Natur entsprach oder dass Stefania zur steigenden Zahl der Menschen gehörte, die ihr Schamhaar tönten.
Sie sah Krawuttke mit großen Rehaugen an und sprach schließlich leise:
«Sie müssen mir helfen. Mein Leben ist in Gefahr!»
Langsam näherte sich der Commissario der Couch, um sich auf dieser in so unmittelbarer Nähe Stefanias niederzulassen, dass zwischen ihren Körpern nichts weiter sein würde als der dünne Stoff der Krawuttkeschen Hose. Er schloss, als die Position endlich erreicht war, die Augen und knallte auf die Polsterung.
Wie auch immer, vielleicht, dass die Gewalt des Beamtenkörpers das zarte Wesen neben ihm hochgeschleudert hatte, jedenfalls stand Stefania, als Krawuttke seine Augen öffnete, über ihn gebeugt, die Augen tränenvoll, und jammerte erbärmlich:
«Er meint es ernst! Nur Sie können mich retten!»

Ihre Brüste hingen ihm wie die Glocken von Notre Dame über dem halbkahlen Schädel, und er sollte der Glöckner sein. Jedenfalls fühlte er einen veritablen Buckel in seinem Hosenstall.
«Immer der Reihe nach,» flüsterte der Commissario beruhigend und zog das flehende Weib neben sich auf die Couch. Woran hatte er sie gezogen? Krawuttke errötete abermals. Etwa am Oberarm? Oder hatte er sich vergriffen und ein anderes Gebilde aus traumhaften Weichteilen umfasst? Er wusste es nicht. Es war ihm scheißegal.
«Erzählen Sie!»
Stefania trocknete ihre Tränen mit einem Handrücken.
«Seit einigen Tagen – genauer gesagt: seit drei Tagen – erhalte ich nächtliche Anrufe. Anonym.»
Der Commissario nickte wissend. Bei Gott, er verstand den Anrufer.
«Glauben Sie mir, ich habe noch niemals eine schrecklichere Stimme gehört! Dieser Mensch weiß alles! Er kennt jedes Stück meiner Unterwäsche mit Vornamen, er weiß um die geheimsten Details meines Tagebuchs – und, und...»
Sie stockte und schaute hilflos zum Commissario, der sich ein Lächeln abrang.
«Ich verstehe», verstand er schließlich, «und er will, dass Sie sich ihm spätnachts nackt am Fenster zeigen. Wahrscheinlich an Heiligabend, denn Blasphemiker dürfte er auch noch sein, unser Massenmörder!»
Wieder sprang Stefania, von der Wucht der Krawuttkeschen Erkenntniskraft hochgerissen, auf.
«Woher wissen Sie nur! Sie sind ein Hellseher!»
Krawuttke lachte. «Nein, nein, aber – ich bin bei der Polizei. Und ––– ein Mann. Das Ganze ist sicher harmlos...»
Stefania unterbrach ihn.
«Aber er weiß ALLES! Er kennt alle Einzelheiten der schrecklichen Tat an meinem Dietmar. Auch die, die niemals in den Zeitungen standen!»
Der Commissario überlegte kurz.
«Das allerdings ändert die Sache. Erzählen Sie mir mehr... oh, ich sehe, Ihre Tränen haben Ihr Kleid völlig durchnässt... ja, ja, gut, dass Sie es ausziehen. Man hat sich ja so schnell erkältet! ––– Oh, die Hose, die Sie da plötzlich in der Hand haben, kommt mir bekannt vor. –––– Ist das etwa meine? Hatte ich die eben nicht noch an? Hm, hm, ja, genau dort, wo ihre Hand jetzt liegt, hatte ich einst einen Blinddarm. Etwas links, uuuarrrgh.»
Zitat des Tages
»Der Mensch wird nie aus eigenem Antrieb seinen Browning weglegen. Solang ich nicht schieß, schießt der andere.«
(Bert Brecht)
This day in crime history:
Song des Tages
Tom Waits: Romeo is bleeding
»But romeo is bleeding as he gives the man his ticket
And he climbs to the balcony at the movies
And he'll die without a wimper
Like every heros dream
Just an angel with a bullet
And Cagney on the screen«