Während Krawuttke die erotischen Einfälle des genialen Autors in den höchsten Tönen lobte, wähnte sich auch Detlef Peter Rühhoff in einem Roman. Einem grottenschlechten allerdings.
Er war zu spät gekommen. Vom hohen C des Schwammerlkaas dahingerafft, lag Deutschlands komplette Sangeshoffnung zerschmettert auf der Bühne, das künftige hohe Kulturgut, mit dem wir unserem Ruf als Exportweltmeister hätten Ehre machen können. Nur fünf Minuten früher, fluchte Rühhoff, oder wenn mich dieser Typ da nicht angerempelt hätte... dieser Typ? Er war ihm bekannt vorgekommen, irgendwie. Aber Rühhoff kannte eine Menge Leute. Trotzdem...
Dass ihn der Chefredakteur umgehend zum Rapport bestellt hatte, verwunderte Rühhoff keineswegs. Wie es einem reuigen Sünder geziemt, war er in das Büro des Gewaltigen geschlichen, um sich eine Standpauke anzuhören. Der Chefredakteur jedoch hatte zunächst einmal gar nichts gesagt. Er ließ Rühhoff Platz nehmen und betrachtete ihn fünf quälend lange Minuten ausdruckslos. Schließlich sagte er:
«Ich habe in meinem Leben schon viele Flaschen getroffen. Aber Sie übertreffen sie bei weitem.»
Das war das Ende. Wortlos verließ Rühhoff das Büro, um seinen Schreibtisch auszuräumen. Er brauchte sich die Mühe nicht zu machen, seine Siebensachen lagen bereits beim Pförtner, der sie ihm mit einem höhnischen Grinsen aushändigte.
Man würde einen Neuen engagieren, einen von diesen jungen Karrieristen, die weder lesen noch schreiben konnten, aber im Stande waren, ein Sektglas unfallfrei zum Munde zu führen. Und er? Wovon sollte er leben? Er hatte nichts gespart, hatte immer in Saus und Braus gelebt, nur das Beste vom Besten genossen und leider auch Telekom-Aktien für die Altersvorsorge gekauft.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, aber die Entscheidung fiel ihm schwer. Noch auf dem Heimweg griff er zum Handy und wählte eine Nummer, die er auswendig kannte. Eine verschlafene Stimme meldete sich.
«Hallo. Hier WM. Was gibt's?»
«Ich bins. Rühhoff.»
Der, der sich WM nannte, lachte einmal kurz.
«Ha. Ich habe schon auf Ihren Anruf gewartet. Sind Sie endlich gefeuert worden? Und jetzt wollen Sie von mir einen Job?»
Rühhoff antwortete nicht. Noch vor Wochen hatte er ein Jobangebot des berüchtigten WM abgelehnt. Jetzt kam er als Bittsteller.
«Antworten Sie nicht!», befahl WM. «Alle halten mich für einen Unmenschen, und damit liegen sie gar nicht so falsch. Aber Weihnachten steht vor der Tür. Sie haben den Job. 500 Euro Fixum im Monat und 4 Euro 80 für herausragende Leistungen. Davon lebt es sich prächtig.»
Tatsächlich. Für WM, den Herausgeber des Internetmagazins HINTERLETZT («Das Plumpsklo am Rand der Datenautobahn») bedeuteten 500 Euro ein geradezu fürstliches Gehalt, das er nicht jedem zu zahlen bereit war. Täglich wählten sich 2 Millionen Leser in HINTERLETZT ein und berappten für dieses fragwürdige Vergnügen einen ganzen glänzenden Euro. Vom so gescheffelten Tagesgewinn von 2 Millionen Euro behielt WM die Hälfte, was 365 Millionen Euro Jahresgehalt bedeutete, das aber noch um das Zweifache anwuchs, da WM einen Beratervertrag mit der Agentur für Arbeit abgeschlossen hatte, an dessen Inhalt er sich jedoch partout nicht mehr erinnern konnte. Eine Milliarde pro Jahr - WM zählte zu den 10000 Besserverdienenden der Stadt.
«Wir sitzen hier gerade gemütlich beisammen und bringen unsere Weihnachtsfeier hinter uns. Kommen Sie doch einfach zwangslos vorbei und feiern Sie mit! Und wagen Sie es bloß nicht, ohne zwei Flaschen Schampus hier aufzutauchen!»
So hatte Rühhoff, sein schweres Schicksal stumm beklagend, am Bahnhofskiosk zwei Flaschen Markenschaumwein erstanden und war mit diesen zur Redaktion von HINTERLETZT geschlendert. Die Stadt lag kalt und düster vor ihm, hinter ihm, neben ihm, in ihm, und jeder Schritt, den er in dieser Kälte und Düsternis tappte, machte alles noch schlimmer. So war er geradezu froh, die Redaktionsräume von HINTERLETZT erreicht zu haben. Sie lagen im Parterre des sogenannten «Palastes der Träne», welchen WM mitsamt seiner inzwischen aus ca. 30 Ex-Praktikantinnen bestehenden, ständig wachsenden erotischen Entourage bewohnte.
Rühhoff klingelte an der Tür. Wie erwartet, wurde sie von einer bereits beträchtlich verblühten, kleingewachsenen Frau geöffnet. Fräulein Katja arbeitete als Kolumnistin und Türöffnerin bei HINTERLETZT. Geboren in dem Jahr, als in Deutschland olympische Spiele stattfanden (gemeint sind nicht die von München), hatte sie die besten Jahre ihres Lebens als Zigarrendreherin zugebracht, bevor der scharfsinnige WM ihr kaum vorhandenes Schreibtalent erkannt und zu seinem kommerziellen Nutzen auszubeuten begonnen hatte. Natürlich war Fräulein Katja schrecklich in WM verliebt. Da sie aber in beinahe jeden, dem sie tagsüber die Tür öffnete, verliebt war, bleibt dieser pikante Umstand ein zu vernachlässigendes Detail.
Auch in Rühhoff verliebte sich Fräulein Katja augenblicklich. Sie öffnete ihre Rehaugen so weit, wie es die sie umgebenden Faltenwürfe erlaubten, und hauchte: «Ui, zwei Flaschen RÜDIGERS CLUB! Sie wollen mich wohl betrunken machen, Herr Rühhoff!»
Rühhoff schauderte. Schnell schritt er an Fräulein Katja vorbei und betrat das Chefzimmer, in dem das komplette Redaktionsteam bereits anwesend war und um den von WM gestifteten halben Beutel STIXI stritt.

Vor seinem leeren Glas hockte MAIK, der ostdeutsche Austauschjournalist, den ein schlimmer Hörfehler zu HINTERLETZT verschlagen hatte. WM hatte, als man ihm Maik telefonisch zum Austausch anbot (gegen eine Packung Hundefutter übrigens), statt «Maik aus Bitterfeld» leider «Mike aus Butterfield» verstanden und den armen Nachwuchsschreiber für einen amerikanischen «Top-Writer» gehalten.
Das Missverständnis war nicht lange verborgen geblieben, zumal Maik des Englischen so mächtig war wie WM des Schriftdeutschen. Dennoch hatte der gnadenlosen Chefredakteur bestimmt, Maik sei fortan für «Americana» zuständig und habe sich binnen drei Wochen einen amerikanischen Akzent anzutrainieren.
Neben diesem bemitleidenswerten Geschöpf saß, in die Betrachtung einer STIXI-Stange versunken, kfb, der sich, wenn er Leserbriefe schrieb, auch bfk nannte. Denn genau das war sein Spleen: Zu jeder seiner zahlreichen Rezensionen schrieb kfb, genauer: fkb einen Leserbrief, welcher das genaue Gegenteil dessen behauptete, was fkb, genauer: kfb in seiner Besprechung behauptet hatte.
Warum er das tat? Ganz einfach: kfb hoffte darauf, eines Tages werde ein gewitzter Schreiberling dieses skurrilen Tatbestandes habhaft werden und sich sofort daran setzen, eine Biografie kfbs zu schreiben, die etwa den Titel «Zwei Seelen schlugen ach in seiner Brust. Die Biografie eines Gespaltenen» lauten könnte. Sollte dies nicht gelingen, war kfb alias bfk fest entschlossen, unter dem Pseudonym fkb diese Biografie selbst zu schreiben und von einem gewissen fbk rezensieren zu lassen. Natürlich wohlwollend.
Auf seinem mit purem Gold überzogenen Pfauenthron saß schließlich ER, WM persönlich. «Ah, Rühhoff! Stellen Sie die Flaschen gleich hier zu mir auf den Tisch! Gut dass Sie kommen! Uns sind gerade die Getränke ausgegangen!»
Rühhoff seufzte und stellte das kostbare Nass auf den Tisch. Den großen WM ließ er dabei nicht aus den Augen, denn noch nie hatte er diese legendäre Figur des zeitgenössischen Internetpublishing von Angesicht zu Angesicht gesehen.
Und dabei hatte er auch nichts verpasst. WM, dessen Alter auf «irgendwo zwischen 20 und 80» geschätzt wurde, sah aus wie ein Oberprimaner im Ruhestand. Leichter Flaum spross aus den schon schlaff gewordenen Wangen, und ein beständiger Strom übler Flüssigkeit entkam beiden Nasenlöchern des mythenumrankten Mannes, dessen Augen voller Abscheu beobachteten, wie sich Fräulein Katja, kfb und Maik um die beiden Flaschen wunderbaren deutschen Markenschaumweins balgten.
«In Zeiten wie diesen», begann WM die Konversation, «kann man sich seine Mitarbeiter leider nicht aussuchen. Auch Sie sind ja eher zu uns gekommen wie ein Stück Scheiße in die Kanalisation, um es einmal so auszudrücken. Ein gescheiterter Reporter der TEXT-Zeitung, eine fragwürdige Existenz mit marginalem Talent. – Willkommen bei HINTERLETZT! Hier sind Sie richtig!»
Mit diesen freundlichen Worten war Rühhoff «im Team», wie Fräulein Katja kichernd kommentierte.
«Genau», bestätigte WM. «Und was können Sie für uns tun?»
Schon wollte Rühhoff antworten, da schnitt ihm eine energische Handbewegung WMs das Wort ab, bevor es gefallen war.
«Reden Sie in Zukunft nur, wenn Sie gefragt werden. Und merken Sie sich, dass, solange Sie Ihre Füße unter meinem Redaktionstisch haben, kein Mensch Sie fragen wird. Also... Im Fall des unheimlichen Massenmörders sind Sie grandios auf die Fresse gefallen. Dabei ist der Fall doch klar! Entweder war es al-Quaida oder aber, und dazu tendiere ich, der Hassprediger von Wuppertal. Sie kennen den Burschen?»
Rühhoff, der lernfähig war, antwortete nicht.
«Na, jetzt antworten Sie schon!», forderte WM ungeduldig auf.
«Nein», antwortete Rühhoff.
«Haha!», brauste WM auf, «Sie wollen nicht antworten, antworten aber trotzdem mit ‚Nein!' Das nenne ich MUT! Und den Hassprediger von Wuppertal kennen Sie wohl auch nicht, den bekannten Pastor Friedbert Rausch, der in jedem Gottesdienst HASS gegen Bayern München predigt, und zwar mit den unglaublichen Worten: ‚OLLI KAHN, DU ALTER NEPP, BAYERN MÜNCHEN IST NUR NEPP'! Wer die Bayern beleidigt, der schreckt auch vor Massenmord nicht zurück!»
Ich will hier raus, dachte Rühhoff. Was soll ich mit diesen vier Irren?
Als hätte WM seine Gedanken gelesen, fuhr er fort: «Sie mögen uns vielleicht für vier Irre halten. Aber Sie irren. Jetzt, da Sie bei uns sind, sind wir fünf.»
Fünf. Kein Zweifel: Sie waren zu fünft. Nach eins kommt zwei, nach zwei kommt drei, nach drei kommt vier, nach vier kommt...
Wie versteinert hockten die Fünf am Tisch. «Scheiße», dachte Fräulein Katja, «ich werde sterben, bevor ich einen abbekommen hab!», und Maiks Gedanken schweiften panisch zurück ins idyllische Bitterfeld, dessen Flüsse und Seen er nimmermehr zu Gesicht bekommen würde. Nur WM blieb cool. Er war der Chef und hatte alles im Griff. Geschehen konnte nur, was er geschehen lassen wollte, und ihm stand der Sinn nicht nach einem grausamen Tod. Wozu war man schließlich Arbeitgeber? Hatte man den Kommunismus besiegt, um SO zu enden?
Die Sekunden der Stille, die der schrecklichen Erkenntnis folgten, wurden von einem Geräusch abgelöst, das von der Wohnungstür kam. Irgendjemand hantierte umständlich am Schloss, wobei er ein schreckliches Lachen hören ließ, dann wurde die Tür schwer ins Schloss geworfen und plumpe Schritte näherten sich der Festgesellschaft.
Dort brachen sofort alle Dämme. Maik aus Bitterfeld erbrach sich lauthals über Fräulein Katjas Schuhwerk, ein Paar zierliche blaue Samtpantöffelchen. Kfb, der sich seinem Ziel, verbiografiert zu werden, plötzlich sehr nahe sah, begann hemmungslos zu lachen und in die Hände zu klatschen. WM sprang – Coolness hin, Coolness her – auf, raufte sich die Haare und kreischte heulend: «Einen Priester, einen Priester! Ich muss beichten! Ich bestehe auf einem christlichen Begräbnis!».
Katja schließlich saß zunächst ruhig auf ihrem Platz und betrachtete sich Maiks Innereien auf ihren Pantoffeln. Voller Grauen erinnerte sie sich daran, dass vor Jahren eine flüchtige Bekannte namens Nicole aus Lemgo mit einem deutsch-französisch-englischen Fremdwörterlexikon für Diplomübersetzerinnen erschlagen worden war. Das bemitleidenswerte Opfer war am Vorabend des Verbrechens anlässlich einer Weihnachtsfeier (!) mit einem zwielichtigen Kriminalschriftsteller ins Gespräch gekommen und hatte diesen gebeten, sie doch in seinem nächsten Roman ermorden zu lassen, unter Angabe des Vornamens, des Heimatortes und eines dezenten Hinweises auf die Profession, denn Nicole gedachte sich die entsprechende Passage einzurahmen und an die Wand zu hängen. Der Autor wurde rasch gefasst und gestand das Verbrechen; verteidigte sich aber mit dem Argument, er sei nun einmal dem literarischen Realismus verpflichtet und schreibe nie etwas, das er nicht in praxi ausprobiert habe. Das Gericht zeigte sich kunstfreundlich und verurteilte den Autor zu einer geringen Geldstrafe auf Bewährung.
Diese schreckliche Episode raste der bibbernden Katja durch den schwindligen Kopf. Dass der Killer genügend Stil besäße, sie mit dem dicksten lieferbaren Buch des Rowohlt Verlages (Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften») zu erschlagen, vermochte sie nur zu hoffen.
Tja, und wer trat durch die Tür? Es war kein Geringerer als Michelangelo Punsch, der Hauszeichner von HINTERLETZT. Mit einer grausigen, von 17 Glühweinen zu verantwortenden Schlagseite stolperte er ins Zimmer. «Fröhliche Weihnachten, ihr Penner!» Ein ihm entgegenfliegender Regen diverser Gegenstände (verkotzte Pantoffeln, Sektflaschen sowie das gusseiserne Suspensorium des Herausgebers) war die Antwort.
Gottlob, dachte Rühhoff, wir sind noch einmal davongekommen!
Zitat des Tages
»Der Mensch wird nie aus eigenem Antrieb seinen Browning weglegen. Solang ich nicht schieß, schießt der andere.«
(Bert Brecht)
This day in crime history:
Song des Tages
Tom Waits: Romeo is bleeding
»But romeo is bleeding as he gives the man his ticket
And he climbs to the balcony at the movies
And he'll die without a wimper
Like every heros dream
Just an angel with a bullet
And Cagney on the screen«