Berlin Bahnhof Zoologischer Garten, der Morgen graute sauer, zuviel Alka Seltzer nach den Bescherungsbesäufnissen war schon in die Atemluft gerülpst worden.
Als Rühhoff die Bahnhofsvorhalle betrat, schlug er den Mantelkragen mechanisch hoch und prüfte noch einmal den Sitz seines künstlichen Schnurrbartes, ein Requisit vergangener, glücklicherer Tage, da er bei der Laienspieltruppe Blankenese den Hamlet gegeben hatte. Denn Rühhoff war in seinem Innersten ein zurückhaltender, ja, schüchterner Mensch, dem Heldenverehrung zuwider war und der sich das unauffällige Leben eines zwar hochgeschätzten, jedoch nicht gottähnlich verehrten Mitbürgers wünschte. Aber was konnte er schon machen? 604 Menschen hatte er vor dem sicheren Tode bewahrt, ganz zu schweigen von den zukünftigen Opfern der Bestie, die nun keine Opfer mehr werden würden. Wenn Rühhoffs Plan aufging. Wenn nicht...
Auch hier in der Vorhalle randalierten EU-trunkene Türken und belästigten deutsche Hausfrauen, die frische Brötchen für das weihnachtliche Frühstück besorgen wollten.
«Türkiye, Türkiye, endlich in EU!
Deutscheland, Deutscheland, buh, buh, buh, buh, buh!
Zickezacke, zickezacke,
Sub-ven-tion!»
Um einen großen Monitor hatten sich Reisende und Passanten versammelt, und Rühhoff war nicht gewillt, dem Beachtung zu schenken, doch plötzlich dröhnte sein Name aus dem Lautsprecher:
«... wurde die Suche nach Detlef Peter Rühhoff, dem flüchtigen Supermörder, inzwischen intensiviert. Unter der Leitung des heldenhaften Kommissars Krawuttke, der, ganz nebenbei, vor einer Stunde seine Verlobung mit Frau Stefania Dielen bekannt gegeben hat, sind die fähigsten Beamten der Hamburger, aber auch der überregionalen Kriminalpolizei auf der Fährte des Flüchtigen. Noch nie gab es in Deutschland eine größere Menschenjagd, aber auch noch nie trieb ein solch schauerlicher Killer sein Unwesen zwischen Saar und Oder, Etsch und Belt.»
Das hat mir gerade noch gefehlt, stöhnte Rühhoff und verließ schleunigst die Bahnhofshalle. Es überraschte ihn nicht. Alles musste schiefgehen, und jetzt, da man ihn jagte wie einen räudigen Hund, gab es keine Alternative mehr zu seinem waghalsigen Plan. Er schlug den Mantelkragen noch höher und stieg die Treppe zur U-Bahn hinab.
Das Regierungsviertel lag im jungen Morgen, als sei nichts geschehen. Der Mann im grauen Wintermantel mit dem hochgestellten Kragen huschte durch die einsamen Straßen und strebte ohne zu zögern seinem Ziele zu, dem Bundeskanzleramt, in dessen oberster Etage der Kanzler himself gemeinsam mit seiner Mutter eine Dreizimmerwohnung bezogen hatte. Rühhoff kicherte. Mochte ja sein, dass ihn die Arbeit bei der TEXT-Zeitung verdorben, korrumpiert und ehrlos gemacht hatte. Sie war es aber auch, die es ihm nun ermöglichte, auf geheimstes Insiderwissen zurückzugreifen und somit Kräfte für sich arbeiten zu lassen, die einem Normalsterblichen nicht zu Gebote standen, wenn es galt, die Untriebe eines Monsters zu unterbinden.
Ein Rudel Bundesgrenzschutzbeamte lungerte schlaftrunken am Zaun des Gebäudes. Wahrscheinlich hatten sie die ganze Nacht Dienst geschoben, warteten auf ihre Ablösung und konnten somit nicht wissen, was in der Welt geschehen war. Rühhoff näherte sich dem augenscheinlich Ranghöchsten, der sogleich seine umgehängte Kalaschnikow in Schießposition brachte, entsicherte und anlegte.
«Brathering», sprach Rühhoff mit fester Stimme das magische Wort, jenen Code, der einem Reporter der TEXT-Zeitung zu jeder Tages- und Nachtstunde die Türen zum Zentrum der Macht öffnete.
«Brathering?», wiederholte der Polizist verwirrt, dachte eine Weile nach, während der die Mündung seiner Waffe dienstgerecht auf Rühhoffs Herzgegend gerichtet blieb.
«Ach so!», hellte sich schließlich seine Miene auf, «Brathering! Das ist das Codewort, nicht? Ha, ha, ha! Brathering! Jungs, macht dem Herrn mal das Tor auf und sagt dem Chef Bescheid! Wen dürfen wir melden?»
Rühhoff überlegte schnell.
«Rudolph. Melden Sie Herrn Rudolph von der TEXT-Zeitung, Abteilung Literaturkritik.»
«Ach, Sie sind das! Ihre letzte Grass-Rezi war wieder mal ne Wucht!»
Rühhoff nickte flüchtig mit dem Kopf und schritt durch das offene Tor.
Mit dem Aufzug fuhr der frühe Gast hoch in die oberste Etage, wo ihn bereits eine ältere, verhärmte und mit einem altmodischen Kittelschurz behängte Frau erwartete. Das also war die Mutter des Bundeskanzlers. Sie deutete ein Lächeln an, führte es jedoch aus Sorge um den korrekten Sitz ihrer Oberkieferprothese nicht aus, sondern wandte sich schweigend um und schlurfte zur offenen Wohnungstür. Rühhoff folgte ihr ebenso schweigend.
Sie gelangten in einen großzügigen, lichten, mit wenigem, doch erlesenem Mobiliar ausgestatteten Raum, dessen Mittelpunkt ein überdimensionierter Ledersessel war, in welchem, eine Zigarre schmauchend, jener Mann hockte, der Deutschland in Angst und Schrecken versetzt hatte.
«Ich habe sie schon erwartet, Rühhoff», sagte der Bundeskanzler zur Begrüßung und schickte seinem Satz eine große Rauchwolke hinterher und dieser wiederum die nächsten Sätze:
«Glückwunsch, ich ziehe meinen Hut! Wenn mir einer auf die Schliche kommen konnte, dann Sie.»
Rühhoff spielte den Geschmeichelten und verbeugte sich leicht.
«24 Menschenleben zu spät! Leider.»
Der Kanzler lachte und sah nun so aus wie seine Vorgänger, die als ölfarbene Ahnengalerie an der Wand hinter ihm hingen: Adenauer, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel, Merz, Lafontaine.
«Vergessen Sie es doch! Napoleon hat Millionen auf dem Gewissen, von Stalin und Hitler oder Alexander dem Großen gar nicht zu reden! - Aber setzen Sie sich bitte!»
Er wies auf den Plüschsessel zu seiner Rechten, der vor dem Fernsehapparat stand, auf dessen Schirm bei ausgeschaltetem Ton aufgeregte Menschen hastige Bewegungen machten. Angewidert starrte Rühhoff in die Fratze des Kommissars, eine ungefüge Masse schwitzenden Fetts, in der sich zwei dicke Lippen sinnlos verformten.
«Ja, unser guter Krawuttke», kommentierte der Kanzler. «Hat Sie ganz schön reingelegt. Was immer Sie auch tun werden, Rühhoff: Sie haben in dieser Geschichte die Arschkarte gezogen.»
«Sie sind verrückt», konstatierte Rühhoff und setzte sich in den Sessel, der das vor Wut bebende Gewicht gelassen aufnahm.
Das Grinsen des Kanzlers erstarrte.
«Wenn ich verrückt wäre, mein Lieber, dann würde das bedeuten, dass ich überhaupt etwas bin. Aber ich bin nichts. Ein Mensch, der in den Augen seiner Mitmenschen nicht existiert. Eine Funktion, das bin ich wohl. So war es immer. Für alles, wofür man keinen Menschen mit Eigenschaften brauchte, nahm man mich, weil ich nichts bin.»
«Sie sind der Kanzler!», wandte Rühhoff ein. «Der mächtigste Mann im Staate! Jeder kennt sie!»
«Niemand kennt mich!», entgegnete der Kanzler und reckte seinen Oberkörper aufgeregt in die Senkrechte.
«Wollen Sie wirklich hören, was ich bin? Was ich schon immer war? Als Jugendlicher trat ich in die Nachwuchsorganisation meiner Partei ein. Wurde abgestimmt, hat man meine erhobene Hand nicht gesehen, meine Stimme nicht gezählt. Wenn ich Reden hielt, redeten auch die anderen. Nämlich miteinander. Sie nahmen nicht wahr, dass ich am Podium stand. Dann, eines Tages, wurden drei Delegierte für den Kreistag gesucht. Ich bewarb mich. Als einer von Dreien. Ich wurde gewählt, weil es keinen Vierten gab. Und so habe ich meinen Weg nach oben gemacht. Ich war das Nichts, das man brauchte, um eine Position auszufüllen, für die man einen Menschen, der zählte, dem man Beachtung schenken musste, nicht gebrauchen konnte. Und heute? Jedes meiner Jahre als Bundeskanzler ist eine einzige Tortur. Vierzehn Figuren im Kabinett bestimmen die Politik, 605 Gestalten im Bundestag debattieren über dummes Zeug und treffen Entscheidungen. Und ich darf unterschreiben. Prominent sei ich, sagten Sie? Nichts weniger! Jeder Singsangheini ist prominenter! Jeder Kleckser, jeder Körperverrenker!»
«Und deshalb mussten Prominente sterben? Warum haben Sie nicht gleich das Kabinett und den Bundestag ausgelöscht?»
Der Kanzler betrachtete die glühende Spitze seiner Zigarre und antwortete langsam:
«Ich habe mit dem Gedanken gespielt. Aber wenn es kein Kabinett mehr gäbe und keinen Bundestag, dann wäre ich nicht einmal mehr ein Nichts. Dann wäre ich weniger als ein Nichts. Ich musste Stellvertreter töten, aber ich weiß, dass mir auch das nichts helfen wird. Meine Existenz als entmenschte Funktion ist um eine weitere Funktion ergänzt worden: Ich bin nicht nur DER Bundeskanzler, ich bin jetzt auch DER Massenmörder.»
«Und jetzt?», fragte Rühhoff.
«Jetzt?» Der Kanzler verzog das Gesicht. «Jetzt... werde ich... ich weiß nicht.»
Rühhoff schüttelte den Kopf.
«Wir sind in einem schlechten Roman», sagte er müde.
«Kann sein. Gute Autoren schreiben immer schlechte Romane. Apropos - Ihre ‚Pfauenfeder' habe ich damals bei HINTERNET mit Vergnügen gelesen und würde mir wünschen, sie auch als gedrucktes Werk zu besitzen.»
Rühhoff lachte. «Diesen Wunsch werde ich Ihnen bald erfüllen können! Der Herausgeber von HINTERNET, der damals mit der Firmenkasse und einer Praktikantin untergetaucht ist, ist wieder auf der Bildfläche erschienen. Da er sämtliche Rechte an meinem Roman besitzt und zudem, weil ihm nun ihrerseits die Praktikantin mit der Kasse durchgebrannt ist, HINTERNET wieder aktiviert hat, wird er das Ding wohl zur Wiederherstellung seines Wohlstandes veröffentlichen.»
«Ha!», grölte der Kanzler, «dann sind Sie ja selbst nichts weiter als eine Funktion!»
«Fürwahr. Aber ich morde nicht. Und wie soll es nun weitergehen?»
«Weitergehen?» Der Kanzler produzierte ein Quantum Rauch.
«Weitergehen?», wiederholte er sinnierend und fügte hinzu:
«Ich denke, es wird so weitergehen wie bisher. Wenn mir danach ist, wenn die ganze Frustration heraus muss, werde ich ein paar Morde begehen. Sie sind Realist genug um zu wissen, dass Sie mich nicht daran hindern können. Niemand wird Ihnen glauben. Im Gegenteil: Für alle Welt sind SIE die Bestie, und Sie haben die Wahl zwischen ständiger Flucht oder lebenslangem Kerker. Nein - eine andere Möglichkeit als weiterzumachen gibt es nicht.»
«Doch», widersprach Rühhoff. «Ich wüsste eine.»
Zitat des Tages
»Vergessen Sie nie, der menschliche Geist ist als Totschläger entstanden und als ein ungeheures Instrument der Rache.«
(Gottfried Benn)
This day in crime history:
Song des Tages
Slim Harpo: My Home Is A Prison
»I got bread and milk for breakfast, milk and bread at supper time
I got bread and milk for breakfast, milk and bread at supper time
And the food I got for dinner, is a low down dirty crime
Yes I shot my baby, I did it because she treat me wrong
I shot my baby, did it because she treat me wrong
Now the only thing I have, this lonesome jail that I call home«