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Gewalt

gewalt.gif

„Selbst von der Toten ließ er nicht ab. Schnitt mit seinem Messer in ihren Körper. Schnitt ihr die Scham heraus. (...) Seine Erregung ließ nicht nach, als er ihre Scham in seinen Händen hielt, das Stück herausgeschnittenes Fleisch. Daran roch. Daran leckte. Daran kaute, sich die Scham über sein eigenes Glied stülpte, sich so vorstellte, nun endlich in sie eindringen zu können. Endlich in sie eindringen. Zuletzt legte er der Toten das Stück Fleisch auf das Gesicht. ‚Da, leck an dir selbst, friss dich selbst, Schlampe!’“
(Andrea Maria Schenkel, „Kalteis“, S. 121 f)

Dass Romane zur Belletristik („belles lettres) gehören, also zur „schönen Literatur“, dafür können sie nichts. Auch dass man das Ästhetische mit dem Appetitlichen verwechselt, verwandelt die Ästhetik nicht in eine Tafel hübsch drappierter Kulinarien. Dass aber Kriminalromane, das Schöne hin, das Appetitliche her, von Gewalt handeln, liegt in ihrer Natur.

Gewalt. Eine nette alte Dame mischt etwas Arsen in den Tee oder ein Schlächter onaniert in die noch dampfenden Wunden seines Opfers. Schön ist beides nicht, appetitlich schon gar nicht. Bei der netten alten Dame lächeln wir, beim onanierenden Schlächter überläuft uns entweder ein wohliges Schaudern oder wir beginnen zu würgen, denn natürlich stellen wir uns das bildlich vor, das ist nun mal der Gag beim Lesen, da schwenkt keine Kamera dezent auf die Tapete, während nur noch das Stöhnen des Täters zu hören ist, bis auch dieses in lautmalerisches Synthezizerschwellen und Geigenzirpen überblendet wird.

Die Darstellung von Gewalt hohnlacht der klassischen Forderung nach dem Wahren UND Schönen, indem es ein ODER bevorzugt. Aber wenn wir schon einmal beim Klassischen sind: Gewalt ist stets mit dem Erschrecken korreliert, von dem Lessing annahm, es weise auf uns selbst zurück und führe zur Läuterung. Man muss dem Meister zugute halten, dass er mit den Blutorgien heutigen Krimischaffens nicht vertraut war, das Erschrecken für Leser produziert, die alles andere als Selbsterkenntnis im Sinn haben, sondern ihre innere Abgestumpftheit mit immer stärkeren Dosen Gewalt kaschieren müssen. Gewalt ist Spektakel und als solches beliebig, ein reines Mengenphänomen, ein Hochleistungskriterium. Je blutiger desto besser desto unsinniger.

Andererseits: die Feingeister als Antipoden solcher Inszenierungen. Ihr Einwand gegen Gewaltdarstellung ist ästhetischer Natur. Sie präferieren die Kunst der Andeutung, die selbstverständlich eine wirkliche Kunst ist, aber niemals etwas mit Weglassen um des Verharmlosens willen zu tun hat. Auch hier ein historischer Reflex: Kriminalliteratur ist, da ordinär, verpönt, und Gewalt darzustellen ist mindestens so ordinär wie die explizite Beschreibung von Sex und fast so ordinär wie das ausführliche Reportieren eines Toilettengangs (nicht von ungefähr hat etwa Arno Schmidt beklagt, in der Literatur werde zu wenig geschissen. Tatsächlich wären sämtliche Romanfiguren im wirklichen Leben an Verstopfung zugrund gegangen).

Kriminalliteratur, die dem zweiten Teil ihres Namens gerecht werden will, darf nicht ordinär sein. Sie muss andeuten, was in den „belles lettres“ und vergeistigten Gehirnen von Buchhändlerinnen immer schon igitt war, sie vertraut auf die Kraft der Imagination des Lesers, die sich aber wiederum gefälligst zu sträuben hat, den Vorgang der Abtrennung von Gliedern, der Selbstbefriedigung über Leichenteilen, der naturalistischen Entleerung eines Darms oder rohen bis lustvollen Pentrierens in allzu deutlichen Strichen zu zeichnen. Literatur und Wirklichkeit kann man nicht trennen; aber man kann sich aussuchen, was zur Wirklichkeit gehört und was nicht.

Schwenken wir kurz in die Tagesaktualität. Hier herrscht seit Jahr und Tag ein Kampf zwischen den Freunden des Gewaltspektakels und denen, die den Ausdruck „Belletristik“ immer noch wortwörtlich nehmen. Über erstere kein Wort an dieser Stelle; interessanter sind die Ästheten, deren paradigmatische Vertreterin wir in einer Bad Tölzer Buchhändlerin erblicken, von der die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet:

“Eine Buchhändlerin aus Bad Tölz hat Andrea Maria Schenkel eine Lesung abgesagt. Der Mörder sei ihr zu grausam!, habe die Frau am Telefon erklärt. „Kann sein", sagt die Autorin, „er ist wirklich brutal. Aber so sind Serienmörder."“

Man sieht die Dame direkt vor sich, wie sie mit den alten Arsenladies bei Tee und Plätzchen Konversation macht, während Herr Haarmann draußen vor der Tür bleiben und sein Hackebeilchen in die Luft sausen lassen muss. Und man weiß plötzlich, warum man sich vor ein paar Tagen folgende Passage aus Derek Raymonds „Die verdeckten Dateien“ angestrichen hat:

„Trotzdem, wenn der Noir-Roman, wie ich ihn verstehe, tatsächlich tiefere Wurzeln im Geist seines Lesers schlägt, wenn dieser nur ein wenig tiefer blicken kann als bis zu seiner anfänglichen Abscheu, dann können wir endlich diesen ganzen Berg von eingebildetem, eskapistischem Dreck Lebewohl sagen, der für den gutbetuchten Mittelklassemarkt geschrieben wird und sich fälschlicherweise ‚Thriller’ oder ‚Detektivroman’ schimpft.“

Erwähnen wir nur der Vollständigkeit halber die von Raymond in diesem Zusammenhang erwähnte Tätigkeit, „mit einem Eimer heißem Wasser und einem Lappen auf Hände und Knie runterzugehen und an dem unbeschreiblichen Dreck zu schrubben, den Leute wie Agatha Christie hinterlassen haben“.

Es ist jedenfalls ein anderer Dreck als der, den Buchhändlerinnen und – zu denen kommen wir gleich – gewisse Rezensenten in ihren hochglänzenden Leseexemplaren nicht anfassen wollen, es ist Dreck, wie er entsteht, wenn man etwas zu Tode kultiviert, Feingeistigkeit beispielsweise.

„Kalteis“ also. Ein Serienmörder, der halt „wirklich brutal“ ist, eine Autorin, die – siehe Eingangszitat – diesen Serienmörder bei seinen Verrichtungen zeigt. Man wird das, was sie da schildert, völlig wertfrei „eklig“ nennen können, denn das ist es natürlich. Gewalt ist eklig, immer. Der Rezensent des „Tagesspiegel“ sieht das ein wenig anders: “Dass Josef Kalteis ein schwer gestörter Mensch ist, ist deutlich genug, und das von Beginn an. Dazu bedarf es keiner detaillierten Schilderung einer abscheulichen Vergewaltigung. Das erhellt nichts und wirkt aufgesetzt, gerade so, als traue Schenkel dem eigenen Genre und Stil nicht mehr zu, von sich aus spektakulär zu sein. Sind sie auch nicht. ‘Kalteis’ wird nicht spektakulärer durch unnötiges Reizen des Brechimpulses”.

Ich verweise hier auf den →Blogeintrag von Joachim Linder, dem ich das Zitat ebenso wie den Impuls verdanke, mich des Themas anzunehmen, er hat auch schon auf die fragwürdige Auffassung von Ästhetik hingewiesen und seine Schlüsse daraus gezogen. Auch dass der Rezensent der "taz" es „gar nicht genauer wissen“ möchte, steht dort schon, wenngleich mit dem von der „Tagesspiegel“-Annahme denkwürdig abweichenden Schlussfolgerung, man kriege es „glücklicherweise nur undeutlich erzählt“.

Was natürlich ein Skandal ist. Wenn ich etwas „undeutlich“ erzählt bekomme, fällt das nicht unter die Kunst des Weglassens, denn die besteht eben gerade darin, etwas zu verdeutlichen, was durch explizites Erzählen zur reinen Deskription verkommen würde. Skandalöser aber der Vorwurf im „Tagesspiegel“, Frau Schenkel greife zur Gewaltdarstellung als Spektakel, weil sie es „dem eigenen Genre und Stil“ nicht mehr zutraue, „spektakulär zu sein“. Nicht nur, dass hier die Darstellung von Gewalt per se diffamiert wird. Es wird auch erwartet, Genre und Stil seien dazu da, „Spektakel“ zu inszenieren, wahrscheinlich von jener allgegenwärtigen Eventhaftigkeit eines Feuerwerks, das seine Betrachter mit leuchtenden Augen aus der Dunkelheit der Nacht reißt und nach Beendigung in eben diese Dunkelheit entlässt. Genre und Stil und Gewaltersatz – das hat was.

Aber was ist eigentlich Gewalt? Ein Bestandteil von Kriminalliteratur? NEIN! Gewalt ist das Samenkorn, aus der Kriminalliteratur entsteht, sie ist weder Assessoire noch notwendiges Übel, sie ist der Kern. Und: Sie ist nicht naturgegeben spektakulär. Man kann in Kriminalromanen auf alles, was uns lieb und teuer und vertraut ist, verzichten, aber nicht auf die Gewalt. Wenn ich Kriminalliteratur in drei Wörtern definieren müsste, es wären die: Kriminalromane erzählen Gewalt.

Dass Gewalt bei schlichteren Gemütern inzwischen längst den „thrill“ ausmacht, lässt sich momentan an der Stieg-Larsson-Euphorie in diesem Land studieren. Da wird fröhlich geschändet und gequält, die gesamte Dramaturgie hüpft von einem zum nächsten Gewaltakt – und die Vorstellung freudig erregter Jungmannen und endlich wieder einmal nervengekitzelter Ehefrauen lässts einem wirklich zum Kotzen werden. Ein Gefühl indes, dass sich bei der Besichtigung von Kriminalliteraturgenießern aus der vorgeblich höherständigen Ecke der Ästheten ebenfalls einstellt. Krimi als „anregendes intellektuelles Vergnügen“? Morde, die einem „ganz schwer zu denken geben“? Einen Eimer, bitte. Oder doch lieber noch einmal Auftritt Derek Raymond, der weiß, „daß es nicht genügt, einen Akt sinnloser Brutalität zu beschreiben, sondern daß die Herausforderung darin liegt, den realen Schrecken zu analysieren“, und der verstanden hat, „daß die dahinter zum Vorschein kommende Wahrheit“ einen hohen Preis abverlangt, wenn man sich darauf einlässt.

Gewalt? Mord? Herausgeschnittene Geschlechtsteile? Onanierende Mörder? Auch die. Aber eben nicht nur. Ich stelle mir gerade vor, wie man einen xbeliebigen deutschen Lebenslauf als Kriminalroman schreiben könnte. Er beginnt damit, dass jemand in die falsche Familie, die falsche gesellschaftliche Klasse hineingeboren wird, keine höhere Schule besuchen kann, obwohl es dies von Neigung und Intelligenz her eigentlich tun müsste (sage keiner, das sei nicht realistisch). Wir verfolgen die Vita dieses Protagonisten als eine ungebrochene Abfolge von Gewalt, die ihm angetan wird. Wir sehen ihn in einem ungeliebten Beruf, in einem ungeliebten Milieu, wir leiden mit ihm hinter dem Schreibtisch, auf dem er Papiere sachbearbeitet, oder in einer Fabrik, wo er Drähte zusammenlötet. Wir sehen ein Leben, das zu Ende war, bevor es richtig begonnen hat, völlig unspektakulär, völlig ohne Blutvergießen, sogar ohne identifizieren Täter, wenn man die Wirklichkeit aus dem Kreis der Verdächtigen entlässt, was man aber nicht tun sollte. Das ist Gewalt. Das ist Gewalt, bei der ich kotzen muss.

Sicher: Ein solches Szenario würde Gefahr laufen, zur billigen Sozialromantikschmonzette zu kippen. So wie jede Darstellung körperlicher Gewalt als verzichtbares Spektakel interpretierbar ist. Mit Schöngeistigkeit oder Appetitlichkeit hat das aber rein gar nichts zu tun. Eher etwas mit der Bereitschaft von Lesern, sich der Gewalt außerhalb der oberflächlichen Inszenierung zu stellen, und dem schriftstellerischen Vermögen der TexturheberInnen.

Und zum Abschluss ein Beispiel. Wieder einmal J.D.H. Temmes „In einer Brautnacht“ (man kann die recht kurze Geschichte →hier nachlesen), ein Stück Gewalt, das durch die Sprache, in der es geschrieben ist, zur Unerträglichkeit eskaliert. Gerade durch UNspekakulären Stil. Es kann auch von Buchhändlerinnen und Rezensenten mit empfindlichen Magen gelesen werden, weil sie überhaupt nicht merken, wie hier Gewalt körperlich wird, körperlich – und wirklich. Aber jetzt müssten wir über Literatur im Allgemeinen reden, und das würde den Rahmen sprengen.

dpr

15. August 2007

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