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Lesenotiz Derek Raymond: Er starb mit offenen Augen

Mit der Ermordung des gescheiterten Schriftstellers Charles Staniland steigt der namenlose Detective Sergeant aus den Albträumen des Autors in das literarische London der achtziger Jahre. Er arbeitet in der Abteilung für unaufgeklärte Todesfälle, A 4, die sich in einem „Factory“ genannten Polizeigebäude befindet, „die mit Abstand unbeliebteste und unbequemste Truppe“.

Der DS, Anfang vierzig und an Beförderung nicht interessiert, macht sich keine Illusionen über seinen Job. „Wir arbeiten an unverständlichen, unwichtigen, offenbar belanglosen Todesfällen von Leuten, die nicht von Interesse sind und es niemals waren.“ Er nimmt keine Rücksichten. Er achtet keine Vorgesetzten, er provoziert sie. Er hat kein Privatleben, jedenfalls hat er es nicht mehr. Viel über seine Vergangenheit erfahren wir in diesem ersten von fünf „Factory“-Romanen nicht, von einer Tochter ist die Rede, aber in Vergangenheitsform, und erst im nächsten Buch („Der Teufel hat Heimaturlaub“) blicken wir auch in diesen Abgrund.

Es ist nicht die Absicht dieser ersten Notizen, den Inhalt der Romane gerafft wiederzugeben. Staniland wurde ermordet, „brutal“, wie man so sagt, totgeprügelt. Der DS ermittelt, spürt Exfrauen, Freundinnen, Kollegen, Zechkumpane und Feinde des Opfers auf, hat irgendwann eine Hypothese, begibt sich in Gefahr, kommt beinahe darin um, stellt Recht und Ordnung wieder her.

Aber Tätersuche interessiert Raymond nicht sonderlich. Sie treibt Kriminalromane voran, das ja, sie lässt den Ermittler durch eine furchtbare Welt irren, nicht swinging London, hier tanzt etwas anderes, der Wahnsinn mit dem Grauen, vielleicht. Die Täter sind abnorme Geschöpfe, brutal inbezil, mit wuchernden Mutterkomplexen, impotent, selbstzerstörerisch, Personal, aus der Wirklichkeit hochgerechnet, ihr ein Gesicht gebend, in dem sie sich nicht erkennen will.

Der DS interessiert sich für die Opfer und ihre Umstände, er kriecht in ihre Köpfe. Staniland hat Kassetten hinterlassen, auf die er sein Leben gesprochen hat, der DS hört sie sich alle an, und manchmal verschwimmt das, manchmal redet Staniland aus dem DS, braucht der die Kassetten nicht abzuspielen, sie spielen sich in einem Kopf selbst ab.

„Werke von ungeheuerlicher Dichte und Wucht, thematisch wie literarisch“ hat Pieke Biermann die fünf Factory-Romane (den letzten hat sie selbst übersetzt) genannt, 1994, in einem Nachruf für das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“. Mit „Er starb mit offenen Augen“ beginnt dieses Grauen, es wird sich, man kann es kaum glauben, noch steigern und schließlich in „Ich war Dora Suarez“ den Gipfel erreichen.

All das kann man lesen, dazu braucht es keine Erklärungen. Wie es denn überhaupt fragwürdig ist, dass man Romane erst dann als große Kunst durchgehen lässt, wenn man die Leserschaft mit „ notwendigen Zusatzinformationen“ versorgt, sämtliche „Bedeutungsebenen“ ausgebreitet hat. Aber Raymond ist einer der seltenen Fälle, wo dieses Extra an Wissen, das sich eben nicht bei der Lektüre erschließt, die Intensität der Texte noch steigert.

Staniland. Ein Opfer. Erfolgloser Schriftsteller, erfolgloser Liebhaber, totgeprügelt. Auf den Kassetten erzählt er aus seinem Leben – und das was er erzählt, sind Fragmente der Autobiografie des Autors, wie dieser sie in „Hidden Files“ auf ganz merkwürdige Weise niedergeschrieben hat. Merkwürdig, weil die Autobiografie sich irgendwann in einer großen Definition des „Noir-Romans“ verliert, aus dem Leben also im Wortsinn Literatur wird, ja, mehr noch: FORM.

Das hat so gar nichts vom üblichen Muster des wohlfeilen „Finde den Autor in seinen Werken“. Raymond seziert sich selbst – nein, falsch, er erfindet eine Figur, den namenlosen Detective Sergeant, der mit seiner ganzen Routine, seinem ganzen traurigen Zynismus (was jetzt fast der legendäre weiße Schimmel ist) diesem erbärmlichen und geschundenen Bündel Mensch Gerechtigkeit widerfahren lässt. Postmortem. Und doch nur herausfindet, dass dieser Staniland von völlig verkorksten Psychopathen in einer ebenso verkorksten und psychopathischen Welt vernichtet wurde.

Das ist kein literarischer Kunstgriff, das ist existentiell. Das wird noch existentieller, wenn wir diesen DS im weiteren Verlauf der Factory-Reihe näher kennenlernen.

Es gibt eine Theorie des Kriminalromans, die von einer Dichotomie realistischer – psychologischer Krimi ausgeht. Will sagen: Entweder zeigt uns ein Krimi das Außen oder er beschreibt uns das Innen. Man könnte dem einiges entgegenhalten, aber das ist nicht nötig. Es genügt, auf Derek Raymond zu verweisen. Das Außen ist das Innen und vice versa, aber es ist noch komplizierter als es sich anhört.

dpr

29. August 2007

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